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Archiv Buchtipps
ARiC Berlin empfahl bisher:
Holz, Steffi: Alltägliche Ungewissheit : Erfahrungen von Frauen in Abschiebehaft / Steffi Holz. Mit Fotos von Leona Goldstein. – 1. Aufl. – Münster : Unrast-Verl., 2007. – 166 S. : 16 Farbfotos ISBN 978-3-89771-468-7
Abschiebehaft
sei ein ganz „normales Leben […] nur ohne Freiheit“ (S. 8) beschrieb
ein ehemaliger stellvertretender Leiter des Abschiebungsgewahrsams
Berlin-Köpenick die Situation der dort Inhaftierten. In Abschiebehaft
kann jede Ausländerin und jeder Ausländer kommen, die bzw. der keinen
gültigen Aufenthaltsstatus hat. Die Inhaftierung wird als
Verwaltungsmaßnahme charakterisiert, „denn Abschiebehaft ist keine
Strafhaft, sondern dient der Ausländerbehörde als vorbereitende
Maßnahme für die erzwungene Ausreise aus der Bundesrepublik“ (S. 7) Die
Realität und Totalität dieses geschlossenen Systems, die von den
Inhaftierten als eine extreme und bedrohliche Situation empfunden
werden (S.7) macht die Autorin in ihrem Buch „Alltägliche Ungewissheit“
sichtbar. Die Sozialwissenschaftlerin Steffi Holz, engagiert in der
Berliner „Initiative gegen Abschiebehaft“, recherchierte zwischen 2003
und 2007 im Abschiebungsgewahrsam Berlin-Köpenick. Sie besuchte
wiederholt inhaftierte Frauen und führte Interviews mit Entlassenen. Sie sprach mit Mitarbeitern der Haftanstalt sowie mit einer Angestellten der Ausländerbehörde. Aus
der Perspektive von vier Frauen aus Liberia, Sri Lanka und der Ukraine
zeichnet die Autorin den Gefängnisaufenthalt von der Ankunft bis zur
Entlassung nach. Die Erinnerungen, Beschreibungen und Wertungen der
Frauen bilden den Hauptteil des Buches. Sie erleben den
Abschiebegewahrsam als Ort der vollständigen Kontrolle und Überwachung,
betrachten ihn aber auch mit seinen gewohnten Strukturen, seinen Regeln
und Routinen (S. 132) als geordneten Alltag. Die alltägliche
Ungewissheit sowie die fehlenden Informationen der Ausländerbehörde
werden von ihnen als außerordentlich bedrückend empfunden. In dem
Abschnitt „Selbsthilfe der Frauen“ (S. 91 ff) beschreibt die Autorin,
wie die Inhaftierten trotz der schwierigen Haftsituation
Umgangsstrategien entwickeln und sich Erlebnisse organisieren. Sie
reflektieren „das System Abschiebehaft, das ihnen zerstörerisch
erscheint und stellen es in seiner Wirkungsweise in Frage“. (S. 11)
Alle vier Frauen, deren Erfahrungen diesem Buch zu Grunde liegen,
wurden nicht abgeschoben, sondern entlassen. Einführend erläutert
Steffi Holz die rechtlichen Rahmenbedingungen der Abschiebehaft in
Deutschland und beschreibt den Ort des Abschiebungsgewahrsam
Berlin-Köpenick. Sie gibt ferner einen zahlenmäßigen Überblick von
Haft, Entlassungen und Abschiebungen der letzten Jahre. „Die Zahl der
Abschiebungen aus der Bundesrepublik ist aufgrund abnehmender
Inhaftierungen seit Jahren rückläufig.“ (S. 18) Im Anhang: ein
Auszug aus dem „Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von
Ausländern im Bundesgebiet“; Gesetze und Verordnungen über den
Abschiebungsgewahrsam im Land Berlin. Mit Literaturverzeichnis. Gisela Jonas
Rechtspopulismus, Arbeitswelt und Armut : Befunde aus Deutschland, Österreich u. der Schweiz / Hrsg. Christoph Butterwegge; Gudrun Hentges. - Opladen & Farmington Hills : Verl. Barbara Budrich, 2008. - 306 S.
ISBN 978-3-86649-071-0
Bestehen Zusammenhänge zwischen den Wahlerfolgen rechtsextremer
Parteien und ökonomischen Krisen bzw. deren sozialer Auswirkungen? Wie
schaffen es Neonazis, an das Alltagsbewusstsein normaler Bürger
anzuknüpfen, und welche Rolle spielen dabei der Umbau des Sozialstaats,
die Auswüchse der Arbeitsmarktflexibilisierung sowie neue Formen von
Armut und sozialer Ausgrenzung? Diesen und anderen Fragen geht in dem
vorliegenden Band der Kölner Politikwissenschaftler Christoph
Butterwegge gemeinsam mit seiner Kollegin Gudrun Hentges und 13
weiteren Autoren nach. Basis dafür war u. a. das von der EU-Kommission
geförderte Forschungsprojekt SIREN ("Socio-economic change, individual
reactions, and the appeal of the extreme right"). Es werden
Forschungsergebnisse aus Untersuchungen in Deutschland, Österreich und
der Schweiz vorgestellt.
Den Anfang macht die zweiteilige, sehr fundierte "Einleitung in
den Diskussionsstand und theoretische Grundlegung": Zunächst widmet
sich C. Butterwegge den Entwicklungen im globalisierten Kapitalismus
und erkennt in dessen Auswüchsen wie rücksichtsloser
Konkurrenzgesellschaft und sozialer Kälte einen adäquaten Nährboden für
Radikalisierungstendenzen in der Gesellschaft. Er setzt sich mit dem
Phänomen des Populismus von rechts wie links auseinander (wobei die
verbalen Entgleisungen eines Oscar Lafontaine eine doch erstaunlich
milde Relativierung erfahren) und diagnostiziert selbst bei
Gewerkschaften einen bedenklichen Hang zum "Standortnationalismus", der
sich gegen Arbeitnehmer nichtdeutscher Herkunft richtet. Im Anschluss
beschäftigt sich SIREN-Koordinator Jörg Flecker mit der "populistischen
Lücke", jenem Vakuum, das die etablierten Parteien angesichts der
modernen sozialen Probleme vielen Menschen heutzutage bieten und das
von Rechtspopulisten mit wachsendem Erfolg immer wieder erfolgreich
genutzt wird. Es folgen die in vier Kapitel unterteilten empirischen
Ergebnisse des europäischen Forschungsprojekts SIREN: "Potenziale
politischer Subjektivität und Wege zur extremen Rechten" widmet sich
den Ergebnissen, die beim Forschungsprojekt in qualitativen Interviews
erhoben wurden. "Arbeitswelt, soziale Frage und Rechtspopulismus in
Deutschland" zeigt anhand von Fallbeispielen Formen der Hinwendung zu
rechtspopulistischem bzw. -radikalem Gedankengut auf; auffällig ist
hier, dass sich die Anfälligkeit für solches keinesfalls nur bei den
sozial benachteiligten "Modernisierungsverlierern" findet. In
"Vorurteil und Berechnung. Sozioökonomischer Wandel und Varianten
rechtspopulistischer Anziehung" wird am Beispiel Österreichs der
Versuch einer Typologie zum Rechtspopulismus neigender Orientierungen
unternommen. Dabei werden vier potentiell empfängliche Typen -
Selbständige mit rechtskonservativer Gesinnung, Arbeitnehmer mit
eigenen Abwertungserfahrungen, Arbeiter, die sich als Bestandteil einer
"Gemeinschaft der Anständigen und Tüchtigen" sehen sowie prekär
Beschäftigte - herausgearbeitet. Der folgende Beitrag "Von der Chemie
der Arbeit zum Siegszug des Populismus" beschäftigt sich mit den Folgen
der Restrukturierung der chemischen Industrie in der Schweizer Region
Basel; dabei werden Einblicke in die Sichtweise der Menschen
aufgezeigt, die durch Arbeitslosigkeit oder Umsetzungsmaßnahmen
einschneidende Veränderungen in ihrer Existenz und ihrem eigenen
Selbstverständnis erfahren haben. Den Abschluss bildet der in drei
Kapitel unterteilte Teil "Arbeitswelt, Armut und soziale Exklusion":
Zunächst wird in "Prekarisierung der Arbeit: Fördert sie einen neuen
Autoritarismus?" deutlich, dass die fortschreitende Ausbreitung
prekärer Beschäftigungsverhältnisse bei den Betroffenen neben sozialer
Desintegration auch neue Disziplinierungstendenzen erzeugt, die nicht
selten zu Ausgrenzungsthesen und rechtsradikalen Vorstellungen führen.
In "Gewerkschaften und Rechtsextremismus. Ausgewählte Ergebnisse eines
Forschungsprojekts" werden die beunruhigenden Befunde über ein nicht zu
unterschätzendes rechtsextremes Einstellungspotential von
Gewerkschaftsmitgliedern vorgestellt. Der letzte Beitrag berichtet über
"(Selbst-) Ethnisierungsprozesse und Rassismus der Exklusion im
Ausbildungsbetrieb". Darin wird die enorme Wichtigkeit aufgezeigt,
Diskriminierungserfahrungen zur Sprache zu bringen und für eine
nichtrassistische Bildungsarbeit im Sinne eines dialogischen Lernens
plädiert. Die Herausgeber haben mit diesem Sammelband ein ebenso
interessantes wie wichtiges Stück Literatur zu einem brennenden
aktuellen Problem der westlichen Industriegesellschaft vorgelegt.
Rechtspopulistischen Ideologien müssen demokratische Alternativen
entgegengesetzt werden, die nur dann erfolgreich sein können, wenn sie
glaubhaft für eine menschenwürdige Gesellschaft eintreten, anstatt
Egoismus und Rücksichtslosigkeit zu honorieren.
Im Anhang: Abkürzungsverzeichnis, Literaturauswahl, Informationen über die Autor/-innen.
Thomas Wagner
Laqueur, Walter: Gesichter des Antisemitismus : von den Anfängen bis heute / Walter Laqueur. – Berlin : Propyläen Verl., 2008. – 246 S. – Aus dem Engl. übers. ISBN 978-3-549-07336-0
Wenn auch gegenwärtig der Begriff des Antisemitismus nicht mehr so eindeutig ist wie früher und er einfach mangels eines anderen, genaueren benutzt wird, spricht nichts dafür, „dass das letzte Kapitel der langen Geschichte des Antisemitismus bereits geschrieben ist“ (S. 33), so das Fazit des international bekannten und angesehenen Historikers und Publizisten Walter Laqueur nach jahrzehntelanger wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und eigener Lebenserfahrung. Der 1921 in Breslau geborene, 1938 nach Palästina emigrierte Autor gehört zu den letzten noch lebenden Angehörigen einer Generation, die Judenhass und Judenverfolgung in ihrer radikalsten Ausprägung selbst erlebt hat. In jeder Zeile dieses Buches spürt man, dass der Antisemitismus für Laqueur kein abstraktes Phänomen ist. Dreißig Jahre lang war der lehrende Historiker Direktor der Wiener Library in London, einer führenden Einrichtung auf dem Gebiet der Antisemitismusforschung. In seinem historischen Essay „Gesichter des Antisemitismus“ konnte er sich auf das ganze Spektrum vorliegender Forschungsergebnisse und Diskussionen zu Motivation, Charakter und Gestalt des Antisemitismus stützen und sie in seine Überlegungen einbeziehen. In elf Kapiteln auf nur knapp 250 Seiten umreißt er Grundzüge der weltweiten Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis heute. Vor allem geht es ihm dabei um den heutigen Charakter des Antisemitismus und seine mögliche Entwicklung in der Zukunft. Es lag nicht in der Absicht des Autors, eine umfassende Theorie des Antisemitismus vorzulegen. Auch auf polemische Auseinandersetzungen lässt er sich nicht ein. Aus gutem Grund widmet sich Laqueur in mehreren Abschnitten antisemitischen Positionen und Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa, in den USA sowie in der arabischen und islamischen Welt, denn immer noch wird die Debatte heftig darüber geführt, ob und in welchem Ausmaß der heutige Antisemitismus in demjenigen der Vergangenheit wurzelt. In diesem Zusammenhang lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers auf den historischen Umstand, dass es nach 1945 neben den weiter bestehenden traditionellen antisemitischen Feindbildern wesentlich neue Elemente und Trägerschaften gab. Dazu gehören die Leugnung des Holocausts, die ausgeprägt antizionistische Variante und die „Islamisierung des Antisemitismus“ (S. 228). Die Frage, ob es einen neuen Antisemitismus gibt, „läuft letzten Endes auf das Problem hinaus, ob Antisemitismus und Antizionismus völlig verschiedene Erscheinungen sind oder ob Antizionismus unter gewissen Umständen in Antisemitismus umschlagen kann. Leider gibt es keine klare Trennlinie:“ (S. 17-18) Von besonderem Interesse für die aktuelle Diskussion in Bezug auf den „Neuen oder post-rassistischen Antisemitismus“ (S. 211) dürften die Kapitel „Die Linke und der Antisemitismus“ und „Islamischer und arabischer Antisemitismus“ sein. Angesichts des auch in Deutschland oft nicht angemessenen Umgangs mit dem Thema besitzt das schmale Buch große politische Bedeutung. Multiplikatoren wie Mitarbeiter aus NGOs und Netzwerken, Lehrer, Referenten, Sozialarbeiter und andere Interessierte könnten damit ihr Wissen zum Thema Antisemitismus vertiefen. Bibliografie und Personenregister. M. Jonzeck
Rechtsextremismus in Brandenburg : Handbuch für Analyse,
Prävention u. Intervention / Hrsg. Julius H. Schoeps; Gideon Botsch;
Christoph Kopke; Lars Rensmann. – 2. Aufl. – Berlin : Verl. für
Berlin-Brandenburg, 2007. – 455 S. ISBN 978-3-86650-640-4
1990
wurde im brandenburgischen Eberswalde der Angolaner Amadeu Antonio
Kiowa von einer ca. 50-köpfigen Gruppe Neonazis ins Koma geprügelt, aus
dem er nicht mehr erwachte. An diesen Vorfall, der als erster
fremdenfeindlicher Mord im wiedervereinigten Deutschland traurige
Berühmtheit erlangte, erinnern die Herausgeber des vorliegenden Bandes
in ihrem Einführungstext. Dieser Mord blieb leider kein Einzelfall. Von
den obligatorischen Treffen und martialischen Aufmärschen
neonazistischer Gruppierungen über volksverhetzende Publikationen und
Schmierereien bis hin zu brutalsten gewalttätigen Übergriffen reicht
bis zum heutigen Tag die Palette rechtsextremer Vorfälle in
Brandenburg. Die konsequente Bekämpfung von Rechtsextremismus,
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus müsse "mehr denn je zentrale
Aufgabe von Staat und Zivilgesellschaft" sein, schreibt Brandenburgs
Innenminister Jörg Schönbohm in seinem Geleitwort; tatsächlich begannen
Brandenburger Regierungsinstitutionen sowie staatliche Initiativen und
NGOs auch schon früh, diesen faschistischen Umtrieben eigene
Aktivitäten entgegenzusetzen. „Rechtsextremismus in Brandenburg“
enthält über 40 Einzelbeiträge von über 50 Autoren unterschiedlicher
politischer Richtungen und Professionen. Die Bandbreite reicht dabei
von wissenschaftlichen Analysen zu rechtsextremen Potenzialen bis hin
zu Schilderungen von Problemstellungen und Handlungsalternativen aus
der Sicht verschiedener, überwiegend im Land Brandenburg aktiver
Akteure staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen. Der
Sammelband ist in vier Hauptteile gegliedert: „Analysen zum
Rechtsextremismus in Brandenburg“ befasst sich u. a. mit Definitionen
und Erscheinungsformen des Rechtsextremismus sowie dessen Milieus,
untersucht rechtsextreme Einstellungen und Trends in Brandenburg und
bietet einen Überblick über die entsprechenden Organisationen seit
1990. Darin wird deutlich, dass allen Verharmlosungen zum Trotz
dringender Handlungsbedarf besteht, denn das rechtsextreme
Einstellungspotenzial in Brandenburg ist zwischen 1998 und 2004 von 19%
auf 33% angewachsen. Untersucht werden ferner die rechtsextremen
Mobilisierungsversuche in Jugend- und Musikszenen und die Codierung
rechtsextremer Symbole und Kleidung im öffentlichen Raum. Teil 2 –
„Prävention und Intervention: Staat, Gesellschaft und Pädagogik im
toleranten Brandenburg“ – stellt Chancen, Strategien und
Aktionsbündnisse gegen Rechtsextremismus vor. Im folgenden Teil „Staat
und Recht“ werden die staatlichen bzw. juristischen Möglichkeiten zur
Prävention und Intervention diskutiert, u. a. auch die Frage eines
NPD-Verbots, dessen tatsächlicher Nutzen unter Experten nach wie vor
umstritten ist. Der Teil „Kommune und Gesellschaft“ enthält u. a. einen
interessanten Erfahrungsbericht mit NPD-Mandatsträgern aus dem
Nachbarland Mecklenburg-Vorpommern, widmet sich kommunalen
Handlungsstrategien, der Förderung von Zivilcourage in Schule und
Jugendarbeit, Projekten im Sportbereich und journalistischen
Erfahrungen im Umgang mit der NPD. Der abschließende 4. Teil „Erziehung
und Bildung“ legt den inhaltlichen Schwerpunkt auf die Möglichkeiten
pädagogischer Arbeit im Kampf gegen Rechtsextremismus, dabei werden
auch Themen wie Gewaltprävention an Schulen, Konzepte für die
Arbeitswelt und die Chancen und Grenzen historisch-politischer
Bildungsarbeit in KZ-Gedenkstätten berücksichtigt. Erwähnenswert ist
dann auch noch der mit fast 70 Seiten sehr umfangreich ausgefallene
Serviceteil, der zahlreiche Institutionen und Initiativen sowie
wichtige Internetseiten vorstellt. Ein Autorenverzeichnis schließt den
Band ab. Thomas Wagner
Kleijwegt, Margalith: „Schaut endlich hin!“ : wie Gewalt entsteht – Bericht aus der Welt junger Immigranten
/ Margalith Kleijwegt. Aus d. Niederländ. von Rosemarie Still. Mit e.
Nachw. von Christine Henry-Huthmacher. – 1. Aufl. – Freiburg i.
Breisgau : Herder Verl., 2008. – 189 S. ISBN 978-3-451-29823-3
Die
niederländische Journalistin Margalith Kleijwegt beschäftigt sich in
ihrer Arbeit vor allem mit den wachsenden Problemen der
multikulturellen Gesellschaft. Von 2003 bis 2004 recherchierte sie im
Stadtteil Slotervaart in Amsterdam West, jenem Migrantenviertel, dem
auch Mohammed Bouyeri, der Mörder des Filmemachers Theo van Gogh,
entstammte. Kleijwegt begab sich dort ins Calvijn met Junior
College, einem sogenannten „schwarzen“ Oberstufenzentrum, an dem
Schüler mit Migrationshintergrund – die meisten marokkanischer,
türkischer oder surinamischer Herkunft - mit über 90% die Majorität
bilden. Ein Jahr lang begleitete sie eine Schulklasse mit 13- bis
14jährigen Jugendlichen, in der sich gerade eine einzige
niederländische Schülerin befand. Die Autorin führte nicht nur mit den
Schülern intensive Gespräche, sie besuchte – sofern es sich ermöglichen
ließ – auch deren Familien, sprach mit Eltern, Geschwistern, Großeltern
und konnte in ihrem Buch so ein realistisches Bild abseits der gängigen
Vorurteile, aber auch jenseits weltfremder Multikultiromantik zeichnen.
Diese Realität ist ernüchternd und Kleijwegts Report führt die
jahrelangen Versäumnisse einer verfehlten Integrationspolitik vor
Augen. Die Jugendlichen, konfrontiert mit dem trostlosen Alltag an
einer „schwarzen“ Schule und der damit einhergehenden
Perspektivlosigkeit für ihr späteres Leben, empfinden sich als Bürger
zweiter Klasse, als Bewohner einer abgeschotteten Parallelwelt; viele
flüchten sich in Resignation, manche in Drogen, andere fallen durch
Gewalttätigkeiten auf. Und je mehr der Weg aus dieser Parallelwelt
hinaus verbaut wird, um so stärker identifizieren sich viele der
Befragten mit diesem Zustand, was zwangsläufig zu einer
fortschreitenden Ablehnung der „normalen“ niederländischen Gesellschaft
führt. Die Eltern erscheinen meist hoffnungslos überfordert: Viele von
ihnen beherrschen die niederländische Sprache nur unzureichend,
befinden sich in prekären Arbeitsverhältnissen oder sind arbeitslos.
Die Probleme ihrer Kinder wollen sie oftmals nicht wahrhaben, flüchten
sich stattdessen in ein häusliches Scheinidyll und unrealistische
materielle Träume. Auch sie empfinden sich als Heimatlose und natürlich
hat fast jeder der Befragten schon Erfahrungen mit alltäglicher
Diskriminierung gemacht - so auch einige Familien, die dieses
Ghettodasein gern gegen ein Leben in einer anderen Wohngegend
eintauschen würden und sich für ihre Kinder bessere Schulen wünschen.
Die Rolle des Islams sieht Margalith Kleijwegt in diesem Kontext
kritisch. Zwar stellt dieser für viele eingewanderte Muslime durchaus
eine Stütze dar und das Beispiel eines Jugendlichen, der in einem
islamischen Internat untergebracht wurde, zeigt, dass sich dessen
schulische Leistungen in der Folge stark verbesserten. Doch zugleich
werden die Heranwachsenden nicht selten unter dem Deckmantel der
Religion mit fundamentalistischen Ideologien, antisemitischer Hetze und
Verachtung für westliche Werte und Lebensart infiltriert. Dabei ist vor
allem auch die Rolle arabischer Satellitensender wie z. B. Iqra TV
nicht zu unterschätzen. Nach dem Mord an Theo van Gogh im November 2004
reagieren die meisten Schüler auf diese Tat mit Verständnis bis hin zu
offener Zustimmung. Dies ist erschütternd und keinesfalls zu
verharmlosen, anhand der vorab geschilderten Fakten jedoch nicht
wirklich überraschend. In einigen Rezensionen ist Margalith
Kleijwegt dafür kritisiert worden, dass sie keine neuen
Lösungsvorschläge bietet und stattdessen einfach nur für mehr Aktivität
und Verantwortungsbereitschaft von allen Seiten plädiert – aber ist
das so verkehrt? Über das Scheitern und Gelingen von Integration sind
inzwischen Berge von Büchern geschrieben worden, von denen viele die
Problematik nur von einer abgehobenen akademischen Warte betrachten.
„Schaut endlich hin!“ zeigt die Wirklichkeit, unangenehm und oft auch
schmerzhaft, dabei aber nie denunzierend oder einseitig wertend und
dementsprechend fällt auch das Schlusswort der Autorin aus: „Kräfte
bündeln und die Probleme praktisch angehen. Daran glaube ich mehr als
an die x-te Problemstudie oder an das x-te Sozialprojekt für
Immigrantinnen oder für entgleiste Jugendliche.“ Thomas Wagner
Köppel, Petra: Konflikte und Synergien in multikulturellen Teams : virtuelle und face-to-face-Kooperation
/ Petra Köppel. Mit e. Geleitw. von Dieter Wagner. – 1. Aufl. –
Wiesbaden : Universitäts-Verl., 2007. – 355 S. : 39 Abb.; 29 Tab. –
(Gabler Edition Wissenschaft : Beiträge zum Diversity-Management) ISBN 978-3-8350-0873-1
Längst
ist bekannt, dass aufgrund der Globalisierung die Märkte immer enger
zusammenwachsen und Unternehmen international agieren.
Selbstverständlich erscheint es da, dass Führungskräfte und Mitarbeiter
aus der ganzen Welt in virtuellen Teams zusammenarbeiten, gemeinsam
Ideen entwickeln und Probleme lösen. Doch scheinen Konflikte in
multikulturellen Arbeitsgruppen aufgrund von Kommunikationsproblemen,
unterschiedlichen Arbeitsstilen und kulturspezifischen Verhaltensweisen
vorhersehbar. Nun könnte man dazu übergehen, Kultur als ein
ungewünschtes, bisweilen sogar störendes Element zu betrachten, welches
es nach Möglichkeit zu vermeiden gelte. Doch genau diesem
Standpunkt versucht Petra Köppel mit ihrer Dissertation
entgegenzuwirken. Anhand empirischer Forschung in sechs deutschen und
schweizerischen Unternehmen entwickelt sie ein Modell, welches die
einzelnen konfliktanfälligen Momente in multikulturellen Arbeitsgruppen
aufdeckt. Mit Hilfe des so genannten Multikulturellen
Input-Prozess-Output-Modells (MIPO-Modell) werden jene Prozesse
untersucht, durch die Kultur und virtuelle Kooperation die
Gruppeneffektivität erhöhen oder beeinträchtigen. Das Ergebnis zeigt
deutlich, dass trotz interkulturellen Trainings sowohl Teammitglieder
als auch Führungskräfte nicht ausreichend auf die neuen Anforderungen
vorbereitet sind. Besonders in den Bereichen Kommunikation, Führungs-
und Arbeitsstil und Konfliktbewältigung kommt es immer wieder zu
Spannungen. Anhand von Beispielen aus den während ihrer Forschung
geführten Interviews veranschaulicht Köppel das Problem: So verstehen
Deutsche in der Regel indirekte Aussagen falsch, sie erwarten von ihrem
Gegenüber klare Antworten. Gerade im asiatischen Raum werden viele
Botschaften jedoch in Höflichkeitsformen verpackt oder durch
Andeutungen übermittelt. Permanentes Nachhaken wird schnell als
persönlicher Angriff gewertet. Häufen sich solche Konflikte,
mindert sich die Effizienz der Leistung: Informationen gehen verloren,
Missverständnisse entstehen, und die Aufgaben werden nicht zur
allgemeinen Zufriedenheit erledigt. Für den Mitarbeiter bedeutet dies
Stress, womöglich sogar persönliche Kränkung und Frustration. Nach
Köppel ist daher eine intensivere Förderung der interkulturellen
Kompetenz und eine ständige Begleitung bei der Teamentwicklung
notwendig. Nur so können Konflikte im Ansatz erkannt und adäquat gelöst
werden. Ganz im Sinne der Value-of-diversity-Hypothese soll so
eine gemeinsame Basis geschaffen werden, auf der die kulturellen,
fachlichen und persönlichen Unterschiede der Mitarbeiter konstruktiv
genutzt werden können. Kultur stellt hier nicht ein Hindernis, sondern
einen Vorteil dar. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und
kulturspezifischen Problemlösungsansätze lassen etwas Neues entstehen;
Mittels erhöhter Kreativität und Motivation können sich die Mitglieder
multikultureller Teams gegenseitig zu innovativen Ideen inspirieren.
Kulturelle Unterschiede werden so zu einer Chance für Unternehmen, die
von einer globalisierten Welt profitieren wollen. Mit dieser Studie
füllt Petra Köppel nicht nur eine Lücke in der wissenschaftlichen
Forschungsliteratur, sondern sie dient auch Mitarbeitern in
multikulturellen Teams als wichtige Informationsquelle. Neben der
Vermittlung von wissenschaftlichen Theorien gelingt es ihr besonders
mit Beispielen aus der empirischen Untersuchung, den Leser für die
zugrunde liegenden Prozesse in virtuellen multikulturellen Teams zu
sensibilisieren. Dr. Petra Köppel ist Projektmanagerin im
Kompetenzzentrum Unternehmenskultur / Führung der Bertelsmann Stiftung
und Mitautorin der Studie "Cultural Diversity Management in Deutschland
hinkt hinterher". Umfangreiches Literaturverzeichnis (40 S.). Friederike Faust
Waldbauer, Peter: Lexikon der antisemitischen Klischees : antijüdische Vorurteile und ihre historische Entstehung / Peter Waldbauer. – 1. Aufl. – Murnau a. Staffelsee : Mankau Verl., 2007. – 193 S. ISBN 978-3-938396-07-0
Brumlik, Micha: Judentum : die wichtigsten Antworten / Micha Brumlik. – Orig.-Ausg.. – Freiburg im Breisgau [u.a.] : Herder, 2007. – 127 S. – (Herder spektrum; 5796 : Was stimmt?) ISBN 978-3-451-05796-0
Klischees und Vorurteile über Juden, „im schlimmsten Fall verursacht
durch Fremdenfeindlichkeit, im günstigsten Fall resultierend aus der
Bequemlichkeit des unreflektierten Nachplapperns“ (Waldbauer, S. 9),
sind weit verbreitet. Mittels Wort, Bild und Schrift werden sie
transportiert und reproduziert. Bildbeispiele solcher Art konnten in
der vor kurzem zu Ende gegangenen Sonderausstellung des Jüdischen
Museums unter dem Titel „typisch! Klischees von Juden und Anderen“ in
Augenschein genommen werden. Zwei Autoren haben sich ebenfalls
dieser nicht immer bequemen Thematik in aufklärender Absicht
angenommen: der einige Jahre u.a. als freier Börsenspekulant in Amerika
tätige Peter Waldbauer (geb. 1966), Schüler und Wegbegleiter des 1999
verstorbenen Börsen-Altmeisters André Kostolany sowie der bekannte
Publizist und Wissenschaftler Micha Brumlik (geb. 1947), langjähriger
Direktor des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main. Beide
untersuchen und erklären in jeweils spezifischer Weise die
historischen, politischen, religiösen und kulturellen Gründe und
Umstände, die zu diskriminierenden Vorurteilen geführt haben.
In seinem „Lexikon der antisemitischen Klischees“ kleidet Peter Waldbauer
gängige Vorurteile und Zuschreibungen vermeintlicher Eigenheiten von
Juden in Fragen, dokumentiert und widerlegt sie zugleich. Jeder kennt
Beispiele wie die folgenden: „Gehören den Juden alle Banken?“ – „Gibt
es eine ,internationale jüdische Hochfinanz’?“ – „Sind Juden
intelligenter als Nichtjuden?“ – „Haben die Juden Jesus gekreuzigt?“ –
„Sind die Juden das auserwählte Volk?“ – „Ist Jiddisch eine
Gaunersprache?“ – „Wird die Weltmacht USA von den Juden beherrscht?“
Nicht alle der hier lexikalisch aufbereiteten und zu Themenkomplexen
zusammengefassten Fragen sind antisemitischen Ursprungs. Manche
Antworten des Autors beziehen sich deshalb auf durchaus reale
Sachverhalte, z.B.: „Warum tragen so viele Juden phantasievolle Namen?“
– „Ist der Talmud die ,jüdische Bibel’?“ – „Wie entstand das
Hofjudentum?“ – „Sind Juden, die nicht in Israel geboren werden,
israelische Staatsbürger?“ Wissensvermittlung steht im Vordergrund
dieses insgesamt leicht zugänglichen Buches. Anhang: Verzeichnis aller
Fragen; Literaturverzeichnis.
Behandelt Peter Waldbauer nur in
einem Kapitel seines Buches landläufige Vorurteile christlicher
Antisemiten (S. 35) wie die kolportierten Ritualmord-Lügen, geht es in Micha Brumliks
kundiger Einführung in die geistigen Grundlagen des Judentums (s. oben)
ausschließlich um die Auseinandersetzung mit Deutungen und Vorwürfen
des christlichen Antijudaismus vor dem Hintergrund der
„Unheilsgeschichte abendländischen Judenhasses.“ (S. 8) Ausgangspunkt
dieses zum einfachen Nachschlagen weniger geeigneten Buches: Das
Judentum in seiner „Einheit von Religion, Volk, Kultur und auch
Staatlichkeit“ (S. 40) sieht sich im theologischen und öffentlichen
Diskurs nach wie vor mit Vorurteilen konfrontiert. So gilt es u.a. als eine „Religion des Gesetzes“, „Religion der Rache“ und als „Religion der Anmaßung“. Brumlik
verdeutlicht an religionsgeschichtlichen Entwicklungslinien, wie es zu
den folgeschweren Pauschalurteilen und Missverständnissen im Verhältnis
von Christentum und Judentum kommen konnte. Beispiele religiöser
Vorurteile bündelt er zu drei übersichtlich gegliederten
Themenkomplexen: Grenzlinien einer Religion; Der Mensch und Gott;
Religion und Gesellschaft. Religiöse Begriffe, Namen und Zitate
(Halacha, Jom Kippur, Zeloten, Mischna, Nidda, Moses Maimonides ...)
werden zum besseren Verständnis an den Texträndern kurz erklärt und
grafisch hervorgehoben. Anhang: Chronologie, Glossar, Verzeichnis ausgewählter Literatur. M. Jonzeck
Naef, Silvia: Bilder und Bilderverbot im Islam : vom Koran bis zum Karikaturenstreit
/ Silvia Naef. Aus d. Franz. von Christiane Seiler. - München : Beck,
2007. - 160 S.: zahlr. Abb. - Einheitssacht.: Y a-t-il une "question de
l'image" en Islam? ISBN 978-3-406-44816-4
Die
Islamwissenschaftlerin und Kunsthistorikerin Silva Naef weist auf
folgendes Paradox hin: Im Islam herrscht ein Bilderverbot, während die
muslimische Welt tatsächlich von Bildern überflutet ist. Sie beschreibt
den Platz des Bildes im Islam im Lauf der Zeit, seine Verurteilung in
der Religion und seine Rolle in der Kunst. Am Ende des Buches zieht sie
ein überraschendes Fazit zu diesem angeblichen Bilderverbot. Hinsichtlich
der Religion verbieten Koran und Hadithe nicht Bilder im Allgemeinen,
sondern weisen auf deren Grenzen hin. Obwohl die muslimischen Gelehrten
schon in der Anfangszeit des Islam unterschiedliche Interpretationen
der heiligen Schriften hatten, einigten sie sich darauf, erstens
Darstellungen von Menschen und Tieren sowie dreidimensionale Bilder in
Gebetsräumen zu verbieten, damit sie nicht als Kultgegenstand
betrachtet würden. Damit wollten sie eine mögliche Rückkehr des
Polytheismus verhindern. Zweitens wird der künstlerische Schöpfungsakt
verurteilt, weil er darin bestehe, Gott - den einzigen Schöpfer - zu
imitieren und sich so mit ihm zu messen. Drittens gilt das Bild als Luxusgegenstand. Sein Besitz beweise also Eitelkeit. Hinsichtlich
der Kunstgeschichte ist die Frage sehr komplex, und es gibt - je nach
Epoche und geographischem Gebiet - verschiedene Betrachtungsweisen. Aus
der faktischen Bilderlosigkeit, die den Sitten und Gebräuchen der
meisten Regionen entsprach, in denen sich der Islam entwickelte, hat
sich später eine Theorie der Bilderfeindlichkeit ergeben. Das
Bilderverbot ist also nicht die Ursache der Bilderlosigkeit, sondern
ihre Rechtfertigung. Figürliche Darstellungen wurden oft als Dekoration
in Palästen verwendet und haben auch dazu beigetragen, den Islam in
christlichen Gebieten durchzusetzen. Solche Bilder befanden sich oft
auch als Muster oder Ornament auf Alltagsgegenständen. Außerdem
entfaltete sich zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert in Persien die
Kunst der Miniaturen. War sie anfangs anonym und wurde lediglich zur
Illustration sagenhafter Erzählungen oder wissenschaftlicher Arbeiten
verwendet, rückte sie später durch Porträts oder durch die Darstellung
historischer Ereignisse immer näher an die Wirklichkeit. Diese Künstler
bekamen allmählich individuelle Anerkennung. Jedoch schmückte ihre
Kunst nie religiöse Räume, in diesen blieb die Kunst der Kalligraphie
vorherrschend. Ab dem 19. Jahrhundert wurden dagegen islamische
Künstler wesentlich von der westlichen Kunst beeinflusst. Dies geschah
vor allem durch das immer populärer werdende Genre der Porträtmalerei
sowie der massenhaften Verbreitung neuer Bildformen wie Fotografie,
Lithografie und später durch den Filmen. Auch das Entstehen von
Denkmälern ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Diese Eroberung sowohl
in der Quantität als auch in der Qualität hat zur Verbreitung zweier
geistiger Strömungen im Islam geführt: einer der Wirklichkeit nahen
Neuinterpretation der heiligen Texte einerseits sowie einer Rückkehr zu
den strengen islamischen Traditionen andererseits. Im Allgemeinen waren
die Bilder in privaten Räumen akzeptiert, während sie für heilige Orte
abgelehnt wurden. Die Autorin erklärt im abschließenden Kapitel ihre
eigene Haltung zu diesem vorgeblich islamischen Bilderverbot. Die
westliche Welt nehme fälschlicherweise das Bilderverbot als
Rechtfertigung für die islamische Verurteilung figürlicher Bilder. Am
Beispiel der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen sei zu erkennen,
dass die Reaktionen das eigentliche Problem vereinfachen würden. Die
von den Bildern ausgehende Botschaft sei wichtiger als das Bild an
sich. Der Kampf des Islam gegen Bilder sei tatsächlich ein Kampf gegen
Ideen. Die Autorin fragt sich zuletzt, ob das Bilderverbot nicht eine
rein westliche Erfindung sei. Mit Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Personenregister. Géraldine Gay
Migranten in Deutschland : Statistiken – Fakten – Diskurse
/ Hrsg. Helena Flam; Forschungsteam: Björn Carius; Beate Dietrich;
Ulrike Froböse; Jochen Kleres u. Axel Philipps. – Konstanz : UVK
Verl.-Ges., 2007. – 321 S. : Tab. ISBN 978-3-89669-672-4
Leipziger
Forscher unter Leitung von Helena Flam, Professorin für Soziologie,
unterziehen Ergebnisse der bisherigen deutschen Migrationsforschung
einer kritischen Analyse. Der Perspektive der Mainstream-Soziologie
zu Migranten und Schule sowie zu Migranten und Arbeitsmarkt stellen sie
ihre eigenen Forschungsergebnisse im Rahmen des international
vergleichenden EU-Projektes XENOPHOB gegenüber. Die Autoren führen
das bisher verstreut vorliegende empirische Material zusammen, ergänzen
es durch Experteninterviews und bewerten es neu. Die Interviews wurden
in Augsburg, Berlin und Leipzig mit Lehrkräften sowie Mitarbeitern aus
Arbeitsämtern und Betrieben geführt. Dabei wurde deutlich, dass man
in den Bereichen Schule, Ämter und Betrieb „von der prinzipiellen
Überlegenheit der Deutschen, ihrer Sprache und Kultur bzw.
Qualifikationen und Arbeitserfahrung ausgeht, jedoch die Kategorie
,Ausländer’ je unterschiedlich“ (S. 205) auslegt. Entgegen gängigen
sozialwissenschaftlichen Theorien, die die Migrantenkinder und ihre
Eltern als defizitär definieren (S. 8) und „die ,ethnische
Ungleichheit’ auf dem Arbeitsmarkt durch die unterschiedliche
Ausstattung mit Humankapital“ (S. 118) erklären, sehen die Leipziger
Wissenschaftler die Ursachen für die Diskriminierung der Migranten
bereits in den vorgegebenen gesetzlichen Regelungen und
institutionellen Rahmenbedingen. Diese bestimmen letztendlich für die
Migranten den Übergang in die weiterführenden Schulen und den Zugang
zum Arbeitsmarkt. Warum die Zugewanderten und ihre Nachkommen in
Deutschland noch immer „in (alltags-) rassistisch diskriminierender …
Weise“ (S.205) behandelt werden, versuchen die Autoren abschließend in
ergänzenden Erklärungsansätzen zu begründen. Dabei richten sie ihren
Blick auf die deutsche Geschichte und ihre Debatten um Nation, Staat
und Staatsbürgerschaft sowie Einwanderung. Einstellungen der
deutschen Bevölkerung zu „Ausländern“ untersuchen die Wissenschaftler
anhand von ALLBUS-Daten (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der
Sozialwissenschaften). Erstmals werden die migrationspolitischen
Grundsätze in den Programmen der Volksparteien SPD und CDU/CSU sowie
der rechtsextremen NPD für den Zeitraum zwischen 1965 und 2005 (S. 32)
analysiert. Diese wissenschaftlich detaillierte Untersuchung vermittelt neue Impulse für migrationspolitisches Handeln. Mit Tabelle: Sieben Phasen der Einwanderung in die BRD, umfangreiches Literaturverzeichnis und Sachregister. Gisela Jonas
Martin, Noël E.: Nenn es: mein Leben : eine Autobiografie
/ Noël E. Martin ; aufgezeichnet von Robin Vandenberg Herrnfeld. –
Orginalausg. - 1. Aufl. – Karlsruhe : Loeper Literaturverl., 2007. –
250 S.; Abb. ISBN 978-3-86059-332-5
Am 16. Juni 1996 wurde Noël Martin, britischer Staatsbürger
jamaikanischer Herkunft, im brandenburgischen Mahlow von jugendlichen
Neonazis attackiert. Beim Versuch den Angreifern in seinem Auto zu
entkommen, verlor er die Kontrolle über das Fahrzeug und prallte gegen
einen Baum. Seitdem ist Martin vom Hals abwärts querschnittsgelähmt,
sein bisheriges Leben für immer zerstört. In der von seiner
deutschen Vertrauten Robin Vandenberg Herrnfeld aufgezeichneten
Autobiografie „Nenn es: mein Leben“ erzählt Martin seine Geschichte:
1959 geboren erlebt er eine von Armut geprägte, aber dennoch glückliche
Kindheit bei seiner Patentante in Jamaika. Im Sommer 1969 holt ihn
seine Mutter nach England, das der Junge sich als das „gelobte Land“
vorstellt. Doch die Wirklichkeit ist ernüchternd. In Birmingham lebt
die fünfköpfige Familie in einer schäbigen Zweizimmerwohnung;
Monotonie, häusliche Gewalt und erste Erfahrungen mit weißem Rassismus
prägen die ersten Jahre dort, die Martin später als die schlimmsten
seines Lebens bezeichnen wird. Ein von Vorurteilen und Gleichgültigkeit
geprägtes Erziehungssystem macht es dem Heranwachsenden unmöglich, eine
seinen Fähigkeiten entsprechende Schulbildung zu erlangen. Immer wieder
wird er mit ungerechter Behandlung, auch mit offenem Rassismus
konfrontiert, er wehrt sich, begehrt auf, wird mehrmals vom Unterricht
suspendiert und schließlich der Schule verwiesen. In der Rastasubkultur
des Reggae findet der Jugendliche zunächst so etwas wie eine kulturelle
Identität, zugleich wird er wiederholt das Opfer grundloser,
unverhohlen rassistisch motivierter Polizeischikanen. Doch Noël Martin
lässt sich nicht unterkriegen, er bewahrt sich einen erfrischenden
Humor, gewinnt aus seinen Erfahrungen ein gesundes Selbstbewusstsein
und eine souveräne Stärke, die es ihm mit viel Fleiß ermöglicht, sich
eine eigene Existenz aufzubauen. In der weißen Britin Jacqueline
Shields findet er die Liebe seines Lebens. Er erlernt das
Gipserhandwerk und arbeitet sich allmählich vom einfachen Arbeiter zum
selbständigen Bauunternehmer hoch. Das Geschäft läuft gut, er erhält
Großaufträge in seiner Heimat und in anderen europäischen Staaten. 1994
erhält er schließlich einen Bauauftrag in Mahlow im Bundesland
Brandenburg, wo er nach zwei Jahren Opfer eines rechtsextremistischen
Anschlags werden wird. Trotzdem will er nicht aufgeben, will alle
Möglichkeiten nutzen, eines Tages wieder zu genesen, was angesichts
seiner Verletzung jedoch ein unerreichbarer Traum bleibt. Martin ist
zum dauerhaften Pflegefall geworden, sein einziger Haltepunkt bleibt
Lebensgefährtin Jacqueline, die ihn vier Jahre lang aufopfernd pflegen
wird, bis sie selbst schließlich an Krebs erkrankt. Im April 2000
heiraten die beiden, zwei Tage nach der Hochzeit stirbt Jacqueline.
Noël Martin verliert seinen Lebenswillen, im Juni 2006 kündigt er an,
an seinem 48. Geburtstag am 23. Juli 2007 freiwillig mit Hilfe einer
Schweizer Sterbehilfeorganisation aus dem Leben scheiden zu wollen.
Doch inzwischen verschob er diesen Termin auf unbestimmte Dauer, denn
er ist nicht reisefähig und braucht auch noch Zeit, um seinen Nachlass
zu regeln. Sein Vermögen soll nicht an den Staat fallen, sondern einer
von ihm ins Leben gerufenen Stiftung in England zugute kommen. Noël
Martin schaut in seiner Autobiografie mit viel Sinn für Details und
erstaunlicher Offenheit zurück auf sein Leben. Er beschönigt dabei
nichts, auch nicht seine eigenen Schwächen. Doch niemals verfällt er in
pures Selbstmitleid oder Trauertiraden, auch wenn Ghostwriterin
Vandenberg Herrnfeld hin und wieder nicht so ganz die Distanz wahren
kann und zwischen den Zeilen ihrer Betroffenheit Ausdruck verleihen
muss. Der Verlag bezeichnet das Buch als „ein erschütterndes und
bewegendes Zeit-Dokument“. Vor allem aber ist dies die Geschichte eines
Menschen, der allen Widrigkeiten zum Trotz nie seine Würde verlor; eine
Geschichte, die allem Unglück zum Trotz Hoffnung und Mut macht. Ein
Teil des Verkaufserlöses des Buches kommt übrigens dem von Martin mit
initiierten Noel-und-Jacqueline-Martin-Fonds zugute, der
Jugendbegegnungsprojekte zwischen Birmingham und Brandenburg
finanziert, siehe auch im Internet unter http://www.noel-martin.de/ . Thomas Wagner
Finkelstein, Kerstin E.: „Wir haben Erfolg!“ : 30 muslimische Frauen in Deutschland / Kerstin E. Finkelstein. Vorwort Seyran Ateş. – Köln : Fackelträger Verl., 2008. – 223 S. ISBN 978-3-7716-4367-6
Sie
gelten als erfolgreich: die Fußballerin M. Ardahanli, die
Polizeikommissarin B. Öner, die Rapperin und Germanistin R. Sahin (Lady
Ray) ebenso wie die Bundestagsabgeordnete Dr. L. Akgün, die Zahnärztin
Dr. E. Cezairli und die Unternehmerin N. Özel, eine bikulturelle
Selfmadefrau. (S. 182) Für diese Porträtsammlung befragte K. E.
Finkelstein 29 muslimische Frauen in Deutschland nach ihrem Leben und
den verschiedenen Wegen ihrer Karriere. Die Interviewten bestimmten
selbst „über Fokus und Wertung ihrer Erfahrungen ...“. (S. 219) Fast
alle der hier porträtierten Elitefrauen einschließlich der bekannten
Rechtsanwältin und Autorin S. Ateş (s. Archiv Buchtipp 0208), die für
dieses Buch ein anregendes Vorwort schrieb, haben in Deutschland ihre
Heimat gefunden, ohne dabei die Bindung an ihre Herkunftskulturen
aufzugeben. Vor allem auch aus diesem Grund verwahren sie sich dagegen,
in und von der Mehrheitsgesellschaft oft nur als Migrantinnen und
Musliminnen und nicht einfach als Mitbürgerinnen wahrgenommen zu
werden. Dr. E. Cezairli bringt diese Problemlage auf den Punkt:
„Muslime werden zu einer Minderheit gemacht, indem man sie auf ihre
Religionszugehörigkeit reduziert. Ich möchte als ein gleichberechtigtes
Individuum mit unterschiedlichen Identitäten, als Bürgerin dieser
Gesellschaft respektiert werden. Ich sehe mich ... in erster Linie als
Demokratin und als Teil der Mehrheit.“ (S. 65) Was diese Frauen,
couragierte und liberale Musliminnen, trotz aller Verschiedenheiten
miteinander verbindet, ist ihr ausgeprägtes bürgerschaftliches
Engagement vor allem im Sozial- und Bildungsbereich. Ausgehend von
ihrer eigenen Biografie engagieren sie sich mit Erfolg für Belange der
deutschen Gesellschaft sowie für die Migranten. „Ich habe eine sehr
gute Ausbildung bekommen“, so die Geschäftsfrau A. Özkan, „viele
Jugendliche haben diese Chance nicht. Also möchte ich etwas von meinen
Möglichkeiten weitergeben.“ (S. 189) Bildung im weitesten Sinne
nimmt in den Schilderungen der Porträtierten einen entscheidenden Platz
ein. Stellvertretend für viele kluge und überzeugende Überlegungen zu
diesem Thema die Auffassung der Ärztin N. Fahrali aus Berlin: „Erfolg
messe ich an Bildung. Das bedeutet nicht, dass ein Kind gleich
Professor werden muss, aber es sollte eben Rad fahren und schwimmen
lernen, lesen und wissen, dass es auch ein Ostberlin gibt.“ (S. 70) Mit
ihrem Buch möchte die Autorin den immer noch sehr eingeengten
Blickwinkel, aus dem Frauen aus islamisch geprägten Herkunftsländern in
Deutschland gesehen werden, erweitern. Ihre Hoffnung dürfte sich
erfüllen, denn diese kurzen, authentischen Lebensgeschichten sind, wie
S. Ateş hervorhebt, „voller Leben, Kraft, Zuversicht und Hoffnung. Sie
zeigen uns, dass es sich lohnt, aktiv zu sein. Sie zeigen uns auch ...,
wie viel jede(r) Einzelne für ein besseres Zusammenleben der Kulturen
und Religionen tun kann.“ (S. 9) Nachwort von Dr. Kerstin E. Finkelstein; Bildnachweis. M. Jonzeck
Rechte Gewalt in Berlin : 2003 bis 2006 / Hrsg. Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz. – Erstaufl.. - Berlin, 2007. - 86 S. (Studienreihe „Im Fokus“)
2005
veröffentlichte der Berliner Verfassungsschutz erstmals eine empirische
Studie zu rechten Gewalttaten. 336 Delikte aus den Jahren 1998 bis 2003
waren darin ausgewertet worden. Die vorliegende Broschüre präsentiert
nun die Folgestudie, basierend auf Straftaten, die zwischen 2003 und
2006 in Berlin (insgesamt 300 Delikte, als "Politisch motivierte
Gewaltkriminalität - rechts" bewertet) begangen wurden. Die Studie
gliedert sich in sieben Hauptkapitel. Einleitend werden zunächst Aufbau
der Studie, Definition des Untersuchungsgegenstandes und Methodik
erläutert. Mit dem 2. Kapitel „Taten“ folgt der umfangreichste Abriss
der Untersuchung: Die Deliktarten (insgesamt 37, vom gefährlichen
Eingriff in den Straßenverkehr bis hin zum Mord) werden beschrieben und
ihre Verteilung statistisch ausgewertet. Ein weiterer Teil des Kapitels
widmet sich dann der geografischen Verteilung der Tatorte: Die meisten
Straftaten ereigneten sich im öffentlichen Raum, dabei dominieren als
Schauplätze erwartungsgemäß öffentliches Straßenland und
Bahnhofsgelände. Wie schon in der Vorgängerstudie lässt sich bei der
bezirklichen Verteilung abermals eine starke Überrepräsentanz der
östlichen Stadtteile verzeichnen. So machen allein die rechten
Gewalttaten in Lichtenberg, Pankow und Treptow-Köpenick 54% der
gesamten Vorfälle aus. Ein starker Rückgang (10%) ließ sich in
Marzahn-Hellersdorf feststellen, während ein Anstieg der Taten vor
allem in Treptow-Köpenick (4%) und Spandau (3,5%) zu verzeichnen war.
Anhand kartographischer Darstellungen werden die verdichteten Räume
rechter Gewalt in Berlin deutlich gemacht; diese decken sich weitgehend
auch mit den Wohnorten aktionsorientierter Rechtsextremisten und
Hochburgen der NPD. Im Anschluss werden die Zeiträume rechter Gewalt
und der Tatvorlauf untersucht. Hierbei wird deutlich, dass sich die
meisten Vorfälle an Wochenenden in den Abend- und Nachtstunden ereignet
haben und der Großteil der Gewalttaten spontan ohne vorherige Planung
begangen wurde. Die Alkoholisierung vieler Täter ist in diesem Kontext
ein weiterer wichtiger Aspekt. Kapitel 3 widmet sich dann den
Tatverdächtigen. Geschlecht, Alter, Schulbildung, Beruf und
Familienverhältnisse werden dabei ebenso berücksichtigt wie die
ideologische Festigung und Bindung an rechtsextremistische
Organisationen. Das daraus resultierende Profil des
durchschnittlichen Tatverdächtigen bestätigt das Bild der
Vorgängerstudie: Der durchschnittliche Täter ist männlichen
Geschlechts, 15-24 Jahre alt und verfügt nur über einen niedrigen
Bildungsstand. Arbeitslosigkeit und einschlägige Vorstrafen sind
weitere häufige Merkmale. Ein bereits verfestigtes
rechtsextremistisches Weltbild weisen jedoch nur wenige Tatverdächtige
auf. Das 4. Kapitel befasst sich schließlich mit den Opfern rechter
Gewalt und beschreibt u. a. die Opferauswahl und die Tatmotivationen.
Hierbei wird deutlich, dass Fremdenfeindlichkeit und eine „gegen links“
gerichtete Motivation die am häufigsten auftretenden Tatmotive waren.
War Fremdenfeindlichkeit als Motivation zwischen 2004 und 2005 deutlich
zurückgegangen, hat sie sich im Jahre 2006 wieder nahezu verdoppelt.
Besonders auffällig ist jedoch der gravierende Anstieg der Übergriffe
„gegen links“, der seine Ursachen einerseits in Auseinandersetzungen
mit ebenfalls gewaltbereiten Linksextremisten, andererseits aber auch
in einem diffusen Hass auf alles vermeintlich „Linke“ findet. In den
folgenden drei Kapiteln werden die Veränderungen zur Vorgängerstudie
zusammengefasst, Programme und Projekte gegen Rechtsextremismus kurz
vorgestellt und statistische Vergleiche präsentiert. Der Anhang enthält
eine Auflistung von politisch motivierter Gewaltkriminalität, eine
Karte der Berliner Bezirke und Ortsteile sowie ein
Literaturverzeichnis. Die Publikation kann im Internet kostenlos unter
http://www.berlin.de/sen/inneres/verfassungsschutz/ bestellt oder als
pdf-Dokument heruntergeladen werden. Thomas Wagner
Zwangsverheiratung in Deutschland / Hrsg. Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Konzeption u. Redaktion
Deutsches Institut für Menschenrechte. – 1. Aufl. – Baden-Baden : Nomos
Verl., 2007. – 384 S. – (Forschungsreihe des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend ; Bd. 1) ISBN 978-3-8329-2907-7
Alle Autorinnen und Autoren dieses wissenschaftlichen Sammelbandes
stimmen darin überein, dass Zwangsverheiratung eine massive Verletzung
der Menschenrechte ist. Phänomene und Ursachen für Zwangsverheiratungen werden in den Beiträgen des ersten Komplexes aufgedeckt. Rainer Strobel und Olaf Lobermeier
werten in ihrer Untersuchung Daten von 331 Mädchen und jungen Frauen
aus, die von Zwangsverheiratung betroffen waren. Davon wurden mit 100
Frauen Leitfadeninterviews geführt, die zu biographisch vertiefenden
Analysen führten. (S. 30) Sie hatten alle bei der Kriseneinrichtung
„Papatya e.V.“, Berlin Hilfe und Unterstützung gesucht. Die Autoren
schätzen ein, dass bei einer Zwangsheirat weniger religiöse Motive als
vielmehr ein sehr enges Ehrverständnis sowie patriarchalische
Familienstrukturen, in denen Ausübung von Gewalt gegen Frauen zum
Alltag gehört, eine Rolle spielen. Necla Kelek und Gaby Straßburger
nehmen in ihren Beiträgen Stellung zum Verhältnis zwischen Zwangsheirat
und arrangierter Ehe. Für Necla Kelek sind arrangierte und erzwungene
Heiraten Ausdruck autoritärer Familienstrukturen sowie Eingriffe in die
freie Selbstbestimmung von Frauen und Männern. Gaby Straßburger
plädiert hingegen dafür, arrangierte Ehen als legitime soziale Praxis
anzuerkennen. In dem Komplex Geschlechterrollen und Paarbeziehungen hebt Manuela Westphal
in ihrem Beitrag „Geschlechterstereotype und Migration“ hervor, dass
Themen wie Zwangsverheiratung, Ehrenmorde und Kopftuchstreit zunehmend
die öffentliche Debatte um Migration und Integration bestimmen. Sie
wendet sich gegen die ihrer Meinung nach stark vereinfachende
Auffassung, traditionelle Geschlechterfragen in Migrantenfamilien „als
bedrohliche Rückzugs- und Desintegrationstendenzen“ (S. 131) zu
betrachten. Ahmet Toprak beschreibt Geschlechterrollen und
traditionelle Geschlechtererziehung in bildungsfernen türkischen
Familien. Den Blick richtet er insbesondere auf familiäre
Disziplinierungsmaßnahmen mit denen junge türkische Männer zu
arrangierten Ehen mit Frauen aus der Türkei gezwungen werden. (s. auch
Archiv Buchtipp: Toprak, Ahmet: Das schwache Geschlecht – die
türkischen Männer) Ein weiterer Komplex des Sammelbandes setzt sich mit rechtlichen Rahmenbedingungen und der Reformdiskussion
auseinander. Internationale Rechtsinstrumente, die den Vertragsstaaten
den Schutz der Menschenrechte von Frauen (und Männern) durch ein Verbot
der Zwangsheirat auferlegen (S. 202), werden von Hanna Beate Schöpp-Schilling
vorgestellt. Das „Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von
Diskriminierung der Frau“ (CEDAW) steht im Mittelpunkt ihrer
Betrachtung. Regina Kalthegener untersucht die Möglichkeiten
zur strafrechtlichen Ahndung der Zwangsverheiratung, die den deutschen
Gerichten mit dem 37. Strafrechtsänderungsgesetz vom Februar 2005 in
den Nötigungsparagraphen gegeben sind. Reformbedarf mahnen Dagmar Freudenberg im Aufenthaltsrecht und Seyran Ateş in verschiedenen Bereichen des Zivilrechts an. Wie Swenja Gerhard
in ihrem Beitrag über „sozialrechtliche Hindernisse bei der
Interventionsarbeit“ hervorhebt, ist für die von Zwangsheirat Bedrohten
bzw. Betroffenen das Sozialrecht, insbesondere das Kinder- und
Jugendhilferecht relevant. Der vierte und letzte Komplex des Bandes enthält 6 Beiträge zu Prävention und Intervention.
Generell sind sich die Autoren darin einig, dass es notwendig sei,
sowohl früh einsetzende Präventionsmaßnahmen und Interventionsprojekte
zu entwickeln als auch bundesweit angemessene Beratungs- und
Schutzangebote in akuten Bedrohungssituationen bereitzustellen. Über die Erfahrungen der Schutz- und Kriseneinrichtungen Papatya e.V. in Berlin und agisra e.V. in Köln berichten Corinna Ter-Nedden, Jae-Soon Joo-Schauen und Behshid Najati.
Die beiden letzteren stellen das von agisra praktizierte
Beratungskonzept zum Thema „Recht auf Selbstbestimmung – gegen
Zwangsheirat“ vor. Barbara Kavemannn plädiert in ihrem
Beitrag „Erfahrungen mit Interventionsprojekten zum Schutz von Frauen
vor Gewalt“ für eine koordinierte Zusammenarbeit staatlicher
Institutionen (Polizei, Justiz, Jugendamt) und nichtstaatlicher
Unterstützungseinrichtungen (Frauenhäuser, Beratungsstellen,
Kinderschutzeinrichtungen (S. 275). Über die inneren Prozesse in
muslimischen Organisationen – hier die Schura in Hamburg, Rat der
islamischen Gemeinschaft e.V. – schreibt Angelika Hassani. Sie
hebt hervor: „Was weitgehend in der innermuslimischen Debatte fehlt,
ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Lebensrealitäten vieler
Jugendlicher. Diese bilden das Konfliktpotenzial, das in der Eskalation
zu Zwangsverheiratungen oder anderen Formen von Gewalt führen kann.“
(S. 341) Der vorliegende Band kann zu einem besseren Verständnis des
Gesamtproblems der Zwangsverheiratung und ihrer Ursachen beitragen,
warnt jedoch zugleich vor Stigmatisierungen gegenüber türkischen
Migranten. Wie einzelne Autoren schon hervorhoben, sind die Ergebnisse
der Untersuchungen selektiv, da alle Probanten bereits von
Zwangsheirat betroffen waren. Mit Literaturangaben zu den einzelnen Beiträgen und Autorenverzeichnis. Gisela Jonas
Ateş, Seyran: Der Multikulti-Irrtum : wie wir in Deutschland besser zusammenleben können / Seyran Ateş. – Berlin : Ullstein, 2007. – 281 S. ISBN 978-3-550-08694-6
Öffentliche
Aufmerksamkeit wurde der Berliner Juristin und Frauenrechtlerin Seyran
Ateş nicht erst zuteil, als sie im Sommer 2006 ihre Zulassung als
Anwältin vorerst zurückgab, nachdem sie von einem Verfahrensgegner
tätlich angegriffen wurde. Die 1963 in Istanbul geborene Seyran Ateş
lebt seit 1969 in Berlin. Seit Jahren setzt sie sich sachkundig und
engagiert mit relevanten Fragen der Integrationspolitik und –praxis
auseinander und vertritt die Rechte von Migrantinnen insbesondere aus
der türkisch-kurdischen Community. Die Rechtsanwältin weiß, dass es
unter Umständen lebensgefährlich sein kann, unbequeme Probleme wie
Zwangsheirat, Ehrenmord, häusliche Gewalt in Migrantenfamilien und
sexuelle Selbstbestimmung für Frauen öffentlich zu thematisieren. Für
ihre Zivilcourage wurde sie mehrfach ausgezeichnet und zur „Frau des
Jahres 2005“ gekürt. 2003 erschien ihre viel beachtete
Autobiographie „Große Reise durchs Feuer“, vor kurzem ihr neues Buch
„Der Multikulti-Irrtum“, ein problemorientierter Gegenentwurf zum
„romantisiert-ethnisierten Blick … auf die türkische und kurdische
Kultur.“ (S. 117) Ausgehend von der Erkenntnis, dass Integration nur
gelingen kann, wenn Frauen gleichberechtigt und selbstbestimmt leben
können, stellt die Autorin ein Thema in den Mittelpunkt ihres Buches:
die Lage türkischer und kurdischer Musliminnen in Deutschland
einschließlich der damit verbundenen Frage, was in der Gesellschaft
konkret getan werden muss, um auch muslimischen Frauen mit oder ohne
den Islam ein Leben in Würde und Freiheit zu ermöglichen. (S. 9) Alle
Sachverhalte dieses Buches – Zwangsheirat, Ehrenmord, Kopftuchstreit,
Scharia, Sexualität im Islam, Religion, Bildung, europäische Leitkultur
und transkulturelle Gesellschaft – sind auf das Hauptanliegen der
Autorin ausgerichtet. Sie verdeutlicht hier noch einmal ihre teils
schon bekannten und veröffentlichten Positionen und Thesen, verbunden
mit Lösungsangeboten, zur Integration von Deutschtürken und in
Deutschland lebenden Migranten und Migrantinnen muslimischen Glaubens. Deutlich
hörbar der eindringliche Appell an die deutsche Gesellschaft und ihre
Einrichtungen, Grund- und Menschenrechtsverletzungen, die unter dem
Deckmantel islamischer Kulturtraditionen und des Rechts auf freie
Religionsausübung begangen werden, nicht länger zu verharmlosen oder zu
ignorieren. „Jeder einzelne Ehrenmord ist ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit.“ (S. 75) Ein friedliches Zusammenleben sei nur möglich,
so Ateş´ These, wenn kultureller Toleranz Grenzen gesetzt werden, wo es
um Menschenrechtsverletzungen geht. (S.91) In diesem Zusammenhang
plädiert sie erneut für einen eigenen Straftatbestand Zwangsheirat und
für ein Verbot des Kopftuchs in Schulen, Universitäten und öffentlichen
Einrichtungen. Vehement setzt sich die Autorin mit dem „Traum von
der multikulturellen Gesellschaft“ (S. 9) auseinander. Mit Blick auf
die streckenweise verfehlte Integrations- und Jugendpolitik in
Deutschland regt die kritische Beobachterin an, das ihrer Meinung nach
überholte und in vielerlei Hinsicht misslungene Konzept einer
multikulturellen Gesellschaft zugunsten einer transkulturellen
Gesellschaft zu überdenken. Dieses sehr authentische Buch „ist ein
Plädoyer für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben, das auf
Verbindlichkeit und Gegenseitigkeit basiert – und auf echter Toleranz.
Wirkliche Toleranz bedeutet, dass man den anderen, sein Umfeld und
seine Kultur kennt und akzeptiert. Sie ist das Gegenteil von
Gleichgültigkeit und Ignoranz.“ (S. 9) Im Rahmen der zur Zeit heftig
geführten Integrationsdebatte dürften die in dem Buch enthaltenen
Fakten und Argumentationen die entsprechende Aufmerksamkeit finden. Anhang: Muslimische Verbände in ausgewählten europäischen Ländern, Anmerkungen, Literaturangaben. M. Jonzeck
Spindler, Susanne: Corpus delicti : Männlichkeit, Rassismus und Kriminalisierung im Alltag jugendlicher Migranten
/ Susanne Spindler. Edition d. Duisburger Instituts für Sprach- u.
Sozialforschung. – 1. Aufl. – Münster : Unrast-Verl., 2006. – 356 S. –
(Edition Diss; Bd. 9) ISBN 978-3-89771-738-1
Werden Jugendliche mit Migrationshintergrund straffällig, wird immer
gern ihr kulturelles Umfeld bzw. ihre ethnische Herkunft als Erklärung
herangezogen. Durch dieses simplifizierte Erklärungsmuster gerät jedoch
oft die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und familiären
Lebensumständen der Betroffenen ins Hintertreffen. Der Blick der
Öffentlichkeit wird von sozialen Missständen abgelenkt und fokussiert
sich auf kulturelle Kontraste, die als scheinbare Ursache für Gewalt
und andere Straftaten fungieren müssen. Dass die wirklichen Ursachen
jedoch weitaus komplexere Hintergründe haben, führt die Studie der
Pädagogin Susanne Spindler vor Augen, welche ursprünglich als
Dissertation an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der
Universität Köln angelegt war und für die vorliegende
Buchveröffentlichung nochmals überarbeitet wurde. Insgesamt 23
Interviews führte die Autorin mit in Jugendstrafanstalten einsitzenden
männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, und diese Gespräche
verdeutlichen, dass die Betroffenen ihr ganzes Leben hindurch „extremen
Ungleichheiten“ ausgesetzt waren. Nach
einleitenden ausführlichen Abrissen zu Geschlechterforschung und
Rassismus, zur Diskussion um Kriminalität sowie zur Methodik der
Biographieforschung werden in Kurzbiographien 11 jugendliche Straftäter
vorgestellt, deren Interviews nachfolgend eine nähere Auswertung
erfahren: Zunächst werden die Jugendlichen zu ihren Erlebnissen im
familiären Umfeld und zur Rolle der Elternteile befragt. Dabei wird
deutlich, dass die Figur des Vaters bei den Betroffenen oftmals eine
stark prägende Rolle gespielt hat; sei dies in der häufig auftretenden
Form als gewalttätiger Aggressor oder auch als selbst an vielen
Unzulänglichkeiten leidende Figur. Im Vergleich dazu ist das Verhältnis
zur Mutter oftmals von liebevollen Emotionen geprägt und sie fungiert
als „emotionaler Rettungsanker“. Im Anschluss beschäftigen sich die
Fragen mit dem schulischen Kontext. Die Betroffenen konnten hier schon
früh unliebsame Erfahrungen mit strukturellen Diskriminierungen
sammeln, was nicht zuletzt auf mangelnde Deutschkenntnisse
zurückzuführen war. Auch erste Rassismuserlebnisse fanden im
schulischen Rahmen statt. Im Folgenden werden die Rolle der
Erwerbsarbeit sowie die Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche
diskutiert. Dass nach einer von mannigfachen Problemen geprägten
schulischen Ausbildung auch der Start ins Berufsleben erschwert wurde,
versteht sich von selbst. Migrationshintergrund, Klassenzugehörigkeit
und vor allem auch individuelle Gründe trugen letztendlich zum
Scheitern bei. Einige der Betroffenen weisen einen Flüchtlingsstatus
auf. Diese spezielle Form der psychischen Belastung, individuelle
Erfahrungen in Flüchtlingsheimen sowie die rechtliche Situation von
Flüchtlingen sind Thema des folgenden Kapitels. Anschließend werden
sexualisierte Gewalt, ihr Zusammenhang mit Rassismus und ihre Rolle als
Mitursache der Kriminalisierung, Homosexualität (und nicht zuletzt eine
panische Angst der Betroffenen vor dieser) sowie die Beziehungen zu
Mädchen und Frauen untersucht. Die Clique als „Ort der
Solidarität“, der für die Jugendlichen oft eine quasi-familiäre
Bedeutung gewinnt, steht im Zentrum des nächsten Kapitels. Doch diese
von territorialen Macht- und Rangkämpfen geprägte semikriminelle
Grauzone dient oftmals nur als Vorstufe zur endgültigen
Kriminalisierung. Das Leben im Gefängnis als junger Migrant und die
Konfrontation mit bevorstehender Abschiebung sind die weiteren Themen.
Ein ausführliches Fazit der Autorin schließt den Band ab. Umfangreiches Literaturverzeichnis. Thomas Wagner
Zur Lage von Kindern aus Roma-Familien in Deutschland :
Zusammenfassung der Ergebnisse einer Studie des Zentrums für
Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin / im Auftrag
von UNICEF Deutschland. – Berlin, 2007. – 48 S. Blattsammlung
Die
Studie beginnt mit einer Einführung in die Lage der Sinti und Roma in
Deutschland seit 1945. Die Autoren unterscheiden drei Gruppen: Die
deutschen Sinti und Roma (heute etwa 70.000), die seit 600 Jahren bzw.
seit Ende des 19. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum leben,
deutsche Staatsbürger sind und über den Status der nationalen
Minderheit verfügen. Zur zweiten Gruppe zählen die zugewanderten
Roma aus Jugoslawien, die Ende der sechziger Jahre als Arbeitsmigranten
in die Bundesrepublik kamen. Inzwischen leben durch Familiennachzug
einige zehntausend Roma in zweiter und dritter Generation in
Deutschland, teils mit deutscher Staatsbürgerschaft, teils mit
unbefristeter Aufenthaltserlaubnis. Der dritten Gruppe gehören
Roma-Flüchtlinge (etwa 40.000 bis 50.000) an, die ab 1990 nach
Deutschland kamen. Aus unterschiedlichen Herkunftsländern stammend,
gezeichnet durch ebenso unterschiedliche Fluchtbiographien stellen sie
eine sehr heterogene Gruppe dar. „Bei aller Binnendifferenzierung
teilen die unterschiedlichen Gruppen allerdings die Erfahrung, immer
wieder mit traditionellen Stereotypen vom „Zigeuner“ konfrontiert zu
werden.“ (S. 3) Gegenstand der Studie ist die Situation von Kindern
aus Roma-Flüchtlingsfamilien, die seit 1990 in Deutschland leben. Die
im Zeitraum von September 2006 bis Februar 2007 in den Großstädten
Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln und Münster durchgeführten
Untersuchungen – Fallstudien, Leitfadeninterviews – geben Aufschluss
darüber, welchen Voraussetzungen und Bedingungen die Integration von
Roma-Flüchtlingskindern unterliegt. Die Studie hebt hervor: Der
Zugang zum Bildungs-, Wohnungs- und Gesundheitsbereich hängt in hohem
Maße vom Aufenthaltsstatus ab, der durch das neue Aufenthaltsgesetz von
2005 bestimmt wird. Etwa nur ein Drittel der Roma-Familien verfügt über
eine Aufenthalts- bzw. Niederlassungserlaubnis. Erst dieser Status gibt
ihnen die Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme, zur Ausbildung und zum Umzug
in Mietwohnungen. Die Mehrheit der Roma-Familien hat jedoch einen
unsicheren Aufenthaltstatus und besitzt zeitlich begrenzte
Aufenthaltspapiere. Die Situation dieser Roma-Kinder findet in der
Studie besondere Beachtung. Die lokalen Befragungen ergaben, dass
der Schulbesuch durch eine Reihe unterschiedlicher Faktoren erschwert
wird: das Alter der Kinder bei der Einreise, die Fluchtbiographie,
fehlende Schulpflicht, Unterbringungsfaktor, häufige Umzüge und
Schulwechsel, mangelnde Elternhilfe bei schulischen Schwierigkeiten
sowie kulturelle Besonderheiten. Dass Integration gelingen kann, ist
am Fallbeispiel Münster (NRW) zu erkennen. Obwohl es hier bis 2005 auch
keine Schulpflicht für geduldete Flüchtlingskinder gab, waren fast alle
Roma-Kinder in den Schulbereich einbezogen. (S. 28) Etwa ab 2003
leiteten einige Städte einen Kurswechsel ein und gewährten unter
bestimmten Auflagen auch geduldeten Flüchtlingen den Umzug in
Mietwohnungen. (S. 35) Bibliographisch verzeichnete Primärquellen
(relevante Dokumente aus Exekutive, Legislative, staatlicher
Administration und einschlägigen Organisationen) aus den untersuchten
Städten belegen diesen Kurswechsel. Im Anhang sind die Interview- und
Gesprächspartner aus Berlin, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln und
Münster benannt. Statistische Daten beschließen die Studie. Mit
Literaturverzeichnis. Gisela Jonas
Hirsi Ali, Ayaan: Mein Leben, meine Freiheit : die Autobiographie / Ayaan Hirsi Ali. – München : Piper, 2006. – 493 S. – Aus dem Engl. übers. ISBN–13: 978-3-492-04932-0 ISBN-10: 3-492-04932-X
Die
Lebensgeschichte der weltweit prominenten, zugleich angefeindeten und
bedrohten Politikerin und Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali geht unter
die Haut. „Es handelt sich um meine subjektiven Erinnerungen“,
schreibt die Autorin in der Einleitung zu ihrer Autobiographie, „und
ich berichte so genau, wie ich es nur kann … Mein Denken ist von dem
geprägt, was ich erlebt und gesehen habe. Mir ist klar geworden, dass
es nützlich, ja sogar wichtig ist, diese Geschichte zu erzählen.
Manches möchte ich klarstellen, einiges geraderücken, und zudem möchte
ich über eine völlig andere Welt berichten, darüber, wie diese Welt
wirklich ist.“ (S. 10) Die Welt ihrer Kindheit in Somalia (hier
wurde sie 1969 geboren), Saudi-Arabien, Äthiopien und Kenia wird im
ersten Teil des Buches lebendig. In dieser spannenden wie informativen
Rückschau auf ihre Kinder- und frühen Jugendjahre nimmt die
Auseinandersetzung mit religiösen Fragen bereits einen breiten Raum
ein. Obwohl streng muslimisch erzogen, rebelliert das junge Mädchen,
vor allem auch unter dem Einfluss freigeistiger Literatur, „gegen die
traditionelle Unterwerfung der Frau.“ (S. 136) Der zweite Teil der
Erinnerungen gilt den Lebensstationen Ayaan Hirsi Alis nach ihrer
Flucht vor der unausweichlichen Zwangsheirat. Als sie 1992 über
Deutschland in die Niederlande emigrierte, war sie 23 Jahre alt. „Ich
floh nicht vor dem Islam oder in die Demokratie. Es ging nicht um große
Ideen – die hatte ich damals nicht. Ich war nur eine junge Frau, die
unbedingt sie selbst sein wollte.“ (S. 266–267) Die dort schon sehr
bald als Dolmetscherin und Sozialarbeiterin tätige Immigrantin erlebt
hautnah das Elend und die Rechtlosigkeit muslimischer Frauen und
Kinder. Folgerichtig stellt sie schon während ihres Studiums der
Politikwissenschaft an der Universität von Leiden sowie als
Parlamentsabgeordnete der rechtsliberalen Partei VVD ihr politisches
Engagement ganz in den Dienst der Befreiung muslimischer Frauen von
Unterwerfung und physischer Gewalt. „Ich beschloß“, so die Autorin,
„eine monothematische Politikerin zu werden, und das bin ich noch
heute. Ich bin überzeugt, dass dieses Thema das größte und wichtigste
ist, mit dem sich unsere Gesellschaft und die ganze Erde in diesem
Jahrhundert wird befassen müssen.“ (S. 416–417) Eng verknüpft mit der
politischen Arbeit Ayaan Hirsi Alis ist ihre fast quälende
Selbstauseinandersetzung mit dem islamischen Glaubenssystem, die zum
endgültigen Bruch mit ihrer Religion führt. Was dann im Leben der
Politikerin geschah, erschütterte die Öffentlichkeit weit über die
Niederlande hinaus. Ihr Kurzfilm „Submission: Part One“
(Autorenkommentar zum Film: S. 438-441) kostete den Regisseur Theo van
Gogh das Leben. Der islamkritische Filmemacher wurde im November 2004
in Amsterdam auf offener Straße von Muhammad Bouyeri ermordet. Der
Drohbrief, den der Mörder auf der Leiche hinterließ, galt Ayaan Hirsi
Ali. Danach lebte sie drei Monate lang, bewacht und dirigiert von
Sicherheitsdiensten, im Untergrund. Nach politischen Querelen um die
Aberkennung ihrer Staatsbürgerschaft verkündet sie am 16. Mai 2006
ihren Rückzug aus dem Parlament in Den Haag sowie ihren Entschluss, die
Niederlande verlassen zu wollen. Heute lebt und arbeitet sie in den USA. Kritikern
wie Gegnern, die ihre Auffassungen als groteskes Geschwätz einer Frau
abtun möchten, die aufgrund persönlicher Erfahrungen mit Beschneidung
und Zwangsverheiratung traumatisiert sei (S. 487), hält Ayaan Hirsi Ali
entgegen: „Meine Beschneidung hat sich … durchaus nicht auf meine
Verstandeskräfte ausgewirkt, und ich würde es vorziehen, wenn meine
Argumentation aufgrund ihrer Schlüssigkeit beurteilt würde und nicht
aufgrund meiner Eigenschaft als Opfer.“ (S.488) Dieses umfangreiche
autobiographische Werk, nachsichtig und differenziert in der
Betrachtung privater Lebenswelten, unerbittlich und polemisch
zugespitzt in der Auseinandersetzung mit Glaubensfragen und der
selbstgefälligen „Haltung der moralischen Relativisten, die
behaupteten, dass alle Kulturen gleich sind …“ (S. 416), wirkt ebenso
polarisierend wie ihr Essayband „Ich klage an“ Piper, 2005. Mit Fotos M. Jonzeck
Toprak, Ahmet: Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer :
Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre / Ahmet Toprak. – 1. Aufl.
– Freiburg : Lambertus Verl., 2005. - 187 Seiten. ISBN 3-7841-1609-4
Durch die Kampagne „STOPPT Zwangsheirat“ der
Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes sind seit 2003 die Themen
Zwangsheirat, Gewalt in Migrantenfamilien und Ehrenmorde verstärkt ins
öffentliche Interesse gerückt worden. Ahmet Toprak, promovierter Diplom-Pädagoge türkischer
Herkunft, beleuchtete mit der vorliegenden Studie erstmals die Perspektive der
betroffenen Männer. Fünfzehn zwischen 1964 und 1982 in Deutschland geborene
türkische Männer wurden in Interviews zu ihrer eigenen Biographie sowie ihren Gedanken über die Bedeutung der Ehe,
Rollenverständnis, Sexualität, Familie und die Motive für Gewalt im „Namen der
Ehre“ befragt. Der Buchtitel „Das schwache Geschlecht - die türkischen
Männer" mag in diesem Kontext zwar zunächst irritieren, bekommt im Lauf
der Lektüre jedoch eine tiefere Bedeutung, denn ungeachtet ihrer betont
„männlichen“ Weltbilder und Ehrbegriffe und ihrer bejahenden Einstellung zu
Zwangsehen und Ehearrangements, sind auch die hier vorgestellten Männer
letztendlich nur Opfer ihrer eigenen Traditionen, die oftmals schon in früher
Kindheit mit häuslicher Gewalt konfrontiert wurden. Alle Interviewten stammen aus traditionellen
bildungsarmen Familienverhältnissen und ließen – obwohl in Deutschland geboren
und aufgewachsen - ihre Ehefrau durch die eigenen Eltern in deren Heimatdorf
auswählen. Die Studie ist somit laut Toprak keinesfalls repräsentativ für alle
türkischstämmigen Männer in Deutschland, verdeutlicht jedoch die immense
Bedeutung von Geschlecht, Ehre, Religion und Kultur innerhalb der hier
vorgestellten Bevölkerungsgruppe. Nach einer thematischen Einführung, in der der Autor
Aktualität, Motivation und die Vorgehensweise bei seinen Forschungen
beschreibt, gliedert sich das Buch in drei Hauptkapitel: Kapitel I widmet sich zunächst den individuellen
Biographien der Befragten. Dabei werden u. a. die Herkunft der Familie und
deren Gründe für die Migration nach Deutschland, die Geschlechterrollen in der
Familie sowie das eigene Verhältnis zu Gewalt und Ehrbegriffen geschildert. Das zweite Kapitel „Generierende Diskussion der
wichtigsten Ergebnisse“ setzt sich auf 100 Seiten ausführlich mit den
Forschungsergebnissen auseinander. Toprak geht darin sehr fundiert auf ein
breitgefächertes Themenspektrum ein und lässt dabei seine umfangreiche Kenntnis
der türkischen Kultur einfließen: Heirat, Motive für die Eheschließung,
Eheschließung als Disziplinarmaßnahme, die Unterschiede zwischen Zwangsehe und
arrangierter Ehe, die Geschlechterrollen, Gewalt in der Familie (sowohl
körperlich wie verbal), Vergewaltigung in der Ehe, Ehre als Doppelmoral bzw.
Mord im Namen der Ehre sowie abschließend zusammenfassende Gründe für die
Gewaltanwendung. Kapitel III fasst das Resümee aus diese Untersuchungen
zusammen und stellt kurz-, mittelfristige und
langfristige Maßnahmen zur Prävention von Zwangsehe und Gewalt dar: Ziel
muss gerade auch innerhalb der türkischen Community ein offener Diskurs über
das Thema Zwangsehe sein. Nicht zuletzt durch Verbesserung der Schul- und
Berufsausbildung sowie der sozialen Bedingungen muss letztendlich eine erfolgreiche
Integration auch dieser türkischen Frauen und Männer erreicht werden. Im Anhang finden sich Literaturhinweise zum Thema. Thomas Wagner
Vom Fliehen und Ankommen : Flüchtlinge erzählen / aufgezeichn.
von Christian Horn …; hrsg. von PRO ASYL. - Orig.-Ausg., 1. Aufl. –
Karlsruhe : Loeper Literaturverl., 2006. – 142 S. : zahlr. Fotogr. ISBN-10: 3-86059-331-5 ISBN-13: 978-3-86059-331-8
„Ganz
gleich, ob man von Ausländern, Gastarbeitern, Migranten, ausländischen
Mitbürgern, Deutschen mit Migrationshintergrund, Bildungsinländern und
so weiter spricht – es wird immer ein Unterschied gemacht. Es wird
immer eine Abgrenzung vorgenommen gegenüber den Deutschen, die schon
,immer’ hier gelebt haben. Deshalb halte ich von diesen Begriffen gar
nichts, das ist nur Schönrednerei. Man fühlt sich vielleicht besser,
weil man sich an die political correctness gehalten hat. … Ich habe
heute die deutsche Staatsbürgerschaft, fühle mich aber immer noch als
Flüchtling“ (S. 54). Diese Einschätzung trifft Mehrschad Zaeri
Esfahani, der als zwölfjähriger mit seinen Eltern 1985 aus dem Iran
nach Deutschland floh, hier Informatik studierte und heute als
Software-Architekt arbeitet. Paimana Heydar wurde 1983 in Kabul
geboren. Ihre Familie floh 1989 aus Afghanistan und stellte 1995 einen
Asylantrag in Deutschland. 2005 machte sie in Neuruppin das Abitur,
konnte aufgrund der Residenzpflicht nicht in eine Universitätsstadt
umziehen und hatte auch kein Recht auf eine Arbeitsstelle. Zu ihrer
Situation heute stellt sie fest: „Ich werde in meinen
Entfaltungsmöglichkeiten massiv eingeschränkt. Das ist in meinen Augen
rassistisch. … Als Flüchtling mit Kettenduldung werde ich gezwungen,
vom Staat zu leben. Dies allein ist schon menschenunwürdig. Ebenso
schlimm sind das langwierige Asylverfahren und das Leben mit der Angst,
auch nach zehn Jahren Aufenthalt in Deutschland immer noch mit
Abschiebung rechnen zu müssen“ (S. 80). Zwei ausgewählte Stimmen
von 17 Flüchtlingen u. a. aus Chile, Sri Lanka, Bosnien-Herzegowina /
Kosovo, Irak, Tschetschenien, Liberia, die in diesem Band zu Worte
kommen. Sie erzählen von Heimatlosigkeit und Neuanfang, von
erfolgreicher und scheiternder Eingliederung in ein zunächst völlig
unbekanntes Land, von teils widrigen Umständen, denen sie häufig in den
Asylheimen ausgesetzt sind. Sie machen dem Leser deutlich, wie ihre
Lebensbedingungen in hohem Maße durch restriktive Gesetze –
Asylverfahren, Residenzpflicht, Arbeitsverbot und
Asylbewerberleistungsgesetz – eingeschränkt sind. Die Berichte von
bzw. über Paimana Heydar (Afghanistan), Ibrahim Delen (Türkei) und Joao
Nafilo (Angola) zeigen insbesondere, was es für Jugendliche ohne
Bleiberecht bedeutet, im Kampf mit der deutschen Bürokratie einen
Studienplatz zu erhalten (S. 10). Die historisch-chronologisch
geordneten Texte dieses Bandes – Reportagen, Ich-Erzählungen,
Interviews – sind nach Gesprächen entstanden, die PRO ASYL mit
Flüchtlingen im Frühjahr 2006 geführt hat. Historische Ereignisse in
den Herkunftsländern, die die Ursache und der Anlass für die Flucht der
betreffenden Asylsuchenden waren, werden kurz kommentiert und dem
einzelnen Beitrag vorangestellt. Ein wichtiges Buch für Vereine,
Organisationen und engagierte Bürger, die in der praktischen
Flüchtlingsarbeit tätig sind. Mit Glossar. Gisela Jonas
Rommelspacher, Birgit: Der Hass hat uns geeint : Junge Rechtsextreme und ihr Ausstieg aus der Szene / Birgit Rommelsbacher. – 1. Aufl. – Frankfurt/Main : Campus Verl., 2006. - 246 Seiten. ISBN 3-593-38030-7
In
den vergangenen Jahren sind rechtsextreme Jugendliche zunehmend ins
Interesse der Medienberichterstattung gerückt und zugleich auch
verstärkt zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Im
vorliegenden Band analysiert die Psychologin Birgit Rommelspacher
anhand von Interviews und biographischen Berichten, wie und warum
Jugendliche zur rechten Szene stoßen und wie es manchen von ihnen
gelingt, in einem langwierigen Prozeß schließlich wieder den Ausstieg
zu schaffen. Das Buch gliedert sich in 8 Kapitel: In „Der Einstieg“
werden zunächst Anlässe und Motive Jugendlicher untersucht, sich
überhaupt zur rechten Szene hingezogen zu fühlen. Das Miteinander in
einer Gemeinschaft und das daraus resultierende Gefühl sozialer
Anerkennung sind dafür ebenso Gründe, wie ein provozierendes
Protestverhalten gegen das etablierte politische System oder der
„Thrill“ durch gewalttätige Aktionen. Ein wesentlicher Faktor für oder
gegen einen Einstieg sind jedoch fast immer die Erfahrungen im
familiären Umfeld. Im Anschluß zeigt das Kapitel „Überzeugungen
festigen sich“, daß sich meist erst während der Zugehörigkeit zur
rechten Szene und der damit verbundenen ideologischen Indoktrination
eine klare politische Identifizierung mit dieser entwickelt. „Rechte
Ideologien – Rechte Fraktionen“ widmet sich den organisierten
Gruppierungen der Szene. Dabei werden die politischen Parteien (NPD,
DVU, REPs) und autonome Skinheadgruppen und Kameradschaften vorgestellt
und die teils recht gravierenden Unterschiede in ihren Ideologien und
Strategien aufgezeigt. Zwei Unterkapitel befassen sich außerdem mit dem
Rechtsextremismus in Ostdeutschland und dem Geschlechterverhältnis bzw.
der Rolle von Frauen in der rechten Szene. Es folgt „Der
Rechtsextremismus und die ‚Mitte’ der Gesellschaft“. In diesem Kapitel
wird deutlich, dass rechtsextreme Ideologien keine „exotischen“
Phänomene, sondern ein Spiegel der Gesellschaft sind. Zwar lehnt der
deutsche Durchschnittsbürger gewalttätige Aktionen kategorisch ab,
nichtsdestotrotz finden sich in weiten Teilen der Bevölkerung nach wie
vor Ansichten, die sich mit rechtsextremen Positionen decken. Die
Autorin warnt davor, die Problematik Rechtsextremismus auf Gewalttäter
zu beschränken und diese Gefahr somit auf ein Randgruppenproblem zu
reduzieren. Es folgt „Der Rechtsextremismus – ein
dominanztheoretischer Ansatz“: Hier wird zunächst auf die
soziokulturellen Hintergründe von Rassismus und Rechtsextremismus
eingegangen. Im Anschluss werden die dominanztheoretischen Gedanken in
der modernen (und eigentlich egalitären) Gesellschaft hinterfragt,
welche sich gerade auch in der so genannten ‚Mitte’ finden.
„Erfahrungen in der rechtsextremen Szene“ schildert anhand von
Fallbeispielen die Enttäuschungen und Widersprüche mit den eigenen
Vorstellungen und „Idealen“, denen Jugendliche im rechten Szenealltag
begegnen – Vorgänge, die irgendwann zu einem Hinterfragen der Ideologie
und schließlich auch zum Bruch mit der Szene führen können. „Der
Ausstieg“ aus der Szene mit seinen Hindernissen wird im gleichnamigen
7. Kapitel anhand von Fallbeispielen dokumentiert. Abschließend werden
in „Strategien gegen Rechtsextremismus“ Möglichkeiten vorgestellt, den
Ausstieg jugendlicher Rechtsextremisten zu unterstützen. Dabei werden
auch die Erfolgsdefizite staatlicher Sanktionen (= Haftstrafen) im
Vergleich zu der Arbeit professioneller Organisationen wie EXIT
deutlich. Ein Quellenverzeichnis und Literaturhinweise schließen den
Band ab. Thomas Wagner
Brinkbäumer, Klaus: Der Traum vom Leben : eine afrikanische Odyssee / Klaus Brinkbäumer. Fotos: Markus Matzel. – Frankfurt am Main : S. Fischer, 2006. - 286 S. ISBN 3-10-005103-3
Agadez,
alte Handelsstadt in Niger, früher Ziel der Salzkarawanen, heute
Zwischenziel der Migranten aus allen Staaten Westafrikas. Tausende
Flüchtlinge kommen nach Agadez, um von hier aus Richtung Norden,
zusammengepfercht auf Lastwagen, durch die Sahara nach Tamanrasset
(Algerien), Metropole der Schleuser, zu fahren. Alle wollen Sie nach
Europa. Auch der Ghanaer John Ampans nahm diesen Fluchtweg. Für
seine Flucht nach Europa brauchte er fünf Jahre. Erstmals nach 14
Jahren kehrt er als Begleiter mit dem Journalisten Klaus Brinkbäumer
und den Fotografen Markus Matzel nach Afrika zurück. Gemeinsam mit ihm
bereisen die Journalisten noch einmal die Stationen seiner
ursprünglichen Fluchtroute, auf der auch heute noch die meisten
Flüchtlinge unterwegs sind. Der Autor rekonstruiert John Ampans
afrikanische Odyssee und ergründet die Motive afrikanischer
Flüchtlinge. Brinkbäumer berichtet von den unvorstellbaren Strapazen,
denen sie ausgesetzt sind. Obwohl sie oft zu hunderten in ihre
Heimatländer abgeschoben werden, versuchen es die Flüchtlinge dennoch
immer wieder, nach Europa, „Paradies der Freiheit, der Sicherheit, der
Gesundheit und des Reichtums“, (S. 93) zu gelangen. Zugleich ist
diese Reisereportage ein politischer Exkurs über afrikanische Zustände.
Brinkbäumer analysiert die unterschiedlichen Entwicklungen und
politischen Systeme verschiedener afrikanischer Staaten. In vielen
Gesprächen mit Betroffenen und Verantwortlichen hinterfragt er den
Nutzen von Entwicklungshilfe. John Ampans dazu in Afrikanisch für
Anfänger S. 164: „ Afrikanische Projekte werden immer mit viel Elan und
viel Geld begonnen und niemals vollendet. Weil die Menschen
verschwinden, die das Projekt gestartet haben. Weil das Geld ausgeht.
Weil sich niemand um Wartung oder Reinigung kümmern will. Weil alles,
was nach Geld aussieht, sofort geplündert wird. Unser Kontinent ist
voll von Ruinen, die vor gar nicht langer Zeit ein Zeichen des
Aufbruchs waren.“ Abschließend setzt sich der Autor mit dem
Ausländer- und Asylrecht der EU-Staaten auseinander und benennt die
Folgen des Vertrages von Schengen für die Flüchtlinge aus Afrika: „Kann
Europa einen zerfallenden Kontinent in unmittelbarer Nähe wirklich
weiter zerfallen lassen? … Kann man die vielen Afrikaner, die auf dem
Weg nach Norden sind, wirklich aussperren? Ertrinken lassen?
Kriminalisieren? Ignorieren?“ (S. 257) Literaturverzeichnis, Register. Gisela Jonas
Milborn, Corinna: Gestürmte Festung Europa : Einwanderung zwischen Stacheldraht und Ghetto / Corinna Milborn. Mit Fotos von Reiner Riedler. – Wien [u.a.] : Styria Verl., 2006. – 248 S. ISBN-10: 3-222-13205-4 ISBN-13: 3-222-13205-6
Die Wiener Journalistin C. Milborn, kritische Begleiterin
europäischer wie globaler Einwanderungsmechanismen, bringt es auf den
Punkt: „Europa ist dabei, eine Festung gegen Einwanderung zu bauen.“
(S. 6) Während an den europäischen Außengrenzen mit meterhohen
Stacheldrahtzäunen und elektronischen Systemen gegen illegale
Einwanderung aufgerüstet wird, werden im Inneren einzelner EU-Staaten
Festungsmauern subtilerer Art gegen Migrantinnen und Migranten
einschließlich ihrer in Europa geborenen Nachkommen errichtet. Der
Massenansturm einiger Tausend Flüchtlinge auf die spanischen Exklaven
Ceuta und Melilla oder die schweren Unruhen in den von Einwanderern
bewohnten Pariser Vororten in den Jahren 2005/2006 machen deutlich,
dass der massive Festungsbau Widerstand hervorruft. Bis die Wurzeln von
Armut und Krieg vor allem in afrikanischen Ländern nicht beseitigt
sind, werden die Menschen immer wieder versuchen, so die Annahme der
Autorin, die Festung Europa zu unterwandern oder zu stürmen. Am
Beispiel von Burkina Faso, einer Gegend in der Sahelzone,
veranschaulicht sie den Teufelskreis von Elend und Flucht (Kapitel 9).
„Europa ist ein Pulverfass geworden, dessen Zündschnur brennt.“ (S. 11) Die
gegenwärtigen Brennpunkte europäischer Einwanderungspolitik bilden die
Schauplätze der eindringlichen und gründlich recherchierten Text- und
Fotoreportagen. Diese Bilder bleiben haften. C. Milborn und der
ebenfalls aus Wien stammende Fotoreporter R. Riedler besuchten Orte
entlang der äußeren und inneren Festungsmauern Europas. Sie sprachen
mit Betroffenen in geheimen Lagern an der marokkanisch-spanischen
Grenze, in den Slums der „Illegalen“ im spanischen Gemüseanbaugebiet
von Almería, im Pariser Vorort Seine-Saint- Dénis, in einem der
islamisch geprägten Viertel Londons sowie im österreichischen
Asylbetreuungszentrum Traiskirchen. Eindrücklich macht die Autorin
(Kapitel 6) auf die besondere Lage eingewanderter Frauen aufmerksam.
Sie seien in vielen Fällen doppelt unterdrückt: innerhalb ihrer
Familien und Gemeinschaften sowie als Diskriminierte in den
Mehrheitsgesellschaften. „Ihre Schicksale sind zur Projektionsfläche
der Diskussion um Integration geworden …“ (S. 131) Die Gespräche,
die sie mit der niederländischen Parlamentsabgeordneten Ayaan Hirsi Ali
und Waris Dirie, UN-Sonderbotschafterin gegen weibliche
Genitalverstümmelung, an einem geheimen Ort in Paris führte, decken die
Brisanz gerade dieses Themas auf. Der vorliegende Bericht über die
katastrophale Lage von Einwanderern an den Grenzen und inmitten Europas
setzt sich zugleich mit Positionen und Reaktionen der gegenwärtigen
europäischen Einwanderungs- und Integrationspolitik vor dem Hintergrund
weltweiter Migrationsbewegungen auseinander. Kernthese: „Es ist nicht
die Einwanderung, die Probleme schafft – es ist der politische Umgang
damit. Es ist auch nicht Europa, das gestürmt wird - es sind die Mauern
einer Festung, die derzeit gebaut wird.“ (S. 7) Speziell deutsche
Erfahrungen z.B. im Hinblick auf Struktur und Anwendung des
Zuwanderungsgesetzes vermittelt der 2006 im Campus Verlag erschienene
„Migrationsreport 2006“, eine thematisch-chronologische Ergänzung des
Bandes „Gestürmte Festung Europa“. Beide Bücher stehen in der Mediathek
der RAA zur Verfügung. Anhang und umfangreiche Anmerkungen. M. Jonzeck
Lobermeier, Olaf: Rechtsextremismus und Sozialisation : eine
empirische Studie zur Beziehungsqualität zwischen Eltern/Angehörigen
und ihren rechtsorientierten Kindern / Olaf Lobermeier. Unter Mitarb.
von Petra Pawelskus; Katarzyna Plachta. - 1. Aufl. - Braunschweig :
Bildungsvereinigung Arbeit u. Leben, 2006. - 183 S. - (Empirische
Studien; Bd. 2) ISBN: 10 3-932082-20-6, ISBN: 13 978-3-932082-20-7
Die
Studie "Rechtsextremismus und Sozialisation" wurde im Rahmen des
entimon-Projekts "Wege aus der rechten Szene" bei der Arbeitsstelle
Rechtsextremismus und Gewalt (ARUG) in Braunschweig durchgeführt. 20
Eltern oder Angehörige von Kindern, die in die rechtsextreme Szene
involviert waren bzw. sind, wurden in problemzentrierten Interviews
zur wechselseitigen Beziehungsqualität befragt. Der Ausgangspunkt war
dabei die Frage, ob Eltern bei einem potentiellen Ausstieg aus der
Szene eine wichtige Rolle einnehmen und ihre Kinder unterstützen können. Nach
früheren Autoritarismusstudien führt eine lieblose und straforientierte
Erziehung in der Familie leicht zu fehlgeleiteten sozialen und
politischen Orientierungen. Jedoch sollten diese Theorien nicht allzu
dogmatisch verwendet werden, denn viele der hier vertretenen Eltern
entsprechen keineswegs diesem Bild und standen ihren Kindern bei einem
Ausstieg aus der rechten Szene mit viel Engagement zur Seite. In die
Studie wurden vorwiegend Personen einbezogen, die - trotz der
rechtsextremen Orientierung ihrer Kinder - den Kontakt zu ihnen
aufrechterhielten und bereit waren, sie bei einem Ausstieg zu
unterstützen. Das Buch gliedert sich in 6 Hauptkapitel: Eingangs
werden die theoretischen Aspekte familiärer Sozialisation erörtert, es
folgen eine kurze Definition des Rechtsextremismus und Erläuterungen
zum Design der Studie. Das 4. Kapitel beschäftigt sich mit
Familienstrukturen der Interviewpartner. Dabei werden Kindheit,
Familienalltag, die wechselseitigen Beziehungsformen und die subjektive
Wahrnehmung der Kindheit berücksichtigt. Eltern-Kind-Beziehungen und
die rechtsextreme Szene stehen im Mittelpunkt des 5. und
umfangreichsten Kapitels. Hier geht es um die Situation vor und während
des Einstiegs in die rechtsextreme Szene und die dadurch bedingten
Veränderungen und Gefährdungen der Eltern-Kind-Beziehungen. Ferner
werden Handlungsstrategien und die Suche nach professionellen Hilfen
sowie die wechselseitigen Beziehungen während der Ausstiegsphase
geschildert. Die im nächsten Kapitel folgende Zusammenfassung
bestätigt, dass die eingangs erwähnten Autoritarismusstudien nicht als
allgemein gültiger Maßstab angewendet werden können. Nicht nur
autoritär geprägte oder in schwierigen sozialen Verhältnissen lebende
Familien, sondern auch solche mit intakten Strukturen können mit
Rechtsextremismus konfrontiert werden. Der Einstieg in die Szene
gestaltete sich fast immer als "schleichender Prozess"; drastische
Störungen des Familienalltags waren die Folge, und die Zeit der
Szenezugehörigkeit wurde zu einer Zerreißprobe für die
Eltern-Kind-Beziehung. Die Frage, ob Eltern bzw. enge Angehörige für
ihre Kinder bei einem Szeneausstieg eine Ressource darstellen können,
lässt sich abschließend jedoch eindeutig positiv beantworten.
Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die Eltern bereit sind, viel
Beharrlichkeit und Mühe zu investieren, sich auch durch Rückschläge
nicht entmutigen lassen und gegebenenfalls bereit sind, professionelle
Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein umfangreicher, mehr als 100 Seiten
umfassender Anhang enthält gut lesbare Interpretationstexte zu allen 20
Interviews. Literaturhinweise. Thomas Wagner
Gottschlich, Jürgen: Das Kreuz mit den Werten : über deutsche und türkische Leitkulturen / Jürgen Gottschlich; Dilek Zaptçioğlu. – 2. Aufl. – Hamburg : edition Körber-Stiftung, 2006. – 263 S. : 8 Fotos ISBN 3-89684-059-2
In der Debatte um den möglichen Beitritt der Türkei in die EU ging
es zunächst um ökonomische Fragen. Nach den Anschlägen vom 11.
September 2001 veränderte sich die Diskussion radikal. Jetzt ging es
vorrangig um eine Wertediskussion: “Worin besteht der Kernbestand
westlicher Werte, was ist die Wertebasis der Europäischen Union und
inwieweit unterscheidet sich diese von den Werten anderer speziell der
islamischen Gesellschaften?” (S. 15) Die Autoren, privat und beruflich
ein türkisch-deutsches Paar, haben von Istanbul aus diesen Diskurs
hautnah miterlebt und mitgeführt. (S. 15) Sie untersuchen in ihrem
Buch, einer Mischung aus Analyse, Interview, Porträt und Reportage,
inwieweit sich deutsche und türkische Werte voneinander unterscheiden.
Sie greifen Aussagen zu gefühlten und Meinungswerten von Türken und
Deutschen über den jeweils anderen auf, die die bekannten Vorurteile
und Stereotype bedienen. Ferner analysieren Gottschlich und
Zaptçioğlu verschiedene soziologische Studien, die belegen, dass die
Entwicklung von Werten und Normen eng mit der ökonomischen Entwicklung
der Gesellschaft zusammenhängt. (S. 51) “Bei allen Fragen gibt es
entsprechend dem Wohlstandsgefälle der einzelnen Länder ein Gefälle von
postmodernen hin zu traditionellen Werten.” (ebenda) Des weiteren
vergleichen die beiden Journalisten die Grundrechte der deutschen
Verfassung mit denen der türkischen Verfassung. Sie gelangen dabei zu
dem Ergebnis, “dass die kodierte gesellschaftliche Werthaltung durchaus
ähnlich ist.” (S. 58) Zwei weitere Beiträge über den Wertewandel in
der Türkei und in Deutschland schließen sich an. D. Zaptçioğlu schreibt
über die Werteentwicklung in der Türkei vom Ende des Osmanischen
Reiches bis in die Gegenwart. Der radikalste Wertewandel vollzog sich
ihrer Auffassung nach in den 1920er und 1930er Jahren unter Mustafa
Kemal Atatürk, dem Begründer der Türkischen Republik. Religion wurde
u.a. zur Privatsache erklärt und das Tragen religiöser Kleidung in der
Öffentlichkeit verboten. (S. 79) Diesem Aufbruch folgte aber nur ein
kleiner Kreis der städtischen wohlhabenden Bevölkerung. Arme und
ländliche Bevölkerungsschichten lebten weiterhin nach alten
traditionellen Werten. J. Gottschlich analysiert den Wertewandel der
letzten 40 Jahre in der Bundesrepublik, in der sich ein rasanter
gesellschaftlicher Wandel erstmals 1969 unter der ersten
sozialliberalen Regierung vollzog. Im selben Jahr wurde die
Strafbarkeit von Ehebruch und Homosexualität abgeschafft. Alternative
Lebensformen und neue Wertvorstellungen wurden zum Programm
antiautoritärer, feministischer und ökologischer Gruppierungen. Nach
1989 prallten die unterschiedlichen Wertvorstellungen in Ost- und
Westdeutschland aufeinander. Die damit verbundene Wiederentdeckung der
Nation führte bei Teilen der deutschen Bevölkerung zu Fremdenhass und
Ausländerfeindlichkeit. “Unter dem ökonomischen Druck der
Globalisierung ist eine Minderheit indessen dabei, Nation und
Deutschtum wieder als identitätsstiftendes Element und vermeintlich
selbstverständlichen Wert zu entdecken.” (S. 130) Im Verlauf des
Wertewandels, so der Autor, habe die Selbstbestimmung des Individuums
unangefochten Vorrang vor den Rechten des Kollektivs, sei es der Staat
oder die Familie. (S. 133) In Reportagen und Porträts schildern die
Autoren dann, wie sich unterschiedliche Werte im Alltag der deutschen
und türkischen Gesellschaft auswirken. Im abschließenden Kapitel
reflektieren sie ihre Eindrücke vom 11. deutsch-türkischen Symposium
der Körber-Stiftung unter dem Motto “Europas Werte: Der christliche,
muslimische, säkulare Beitrag”. D. Zaptçioğlu merkt dazu kritisch an,
dass die deutschen Teilnehmer ihre “Werte” gar nicht zur Debatte
gestellt hätten, sondern sich ausschließlich auf negative Aspekte
türkischer Werte wie “Ehrenmorde”, Zwangsehen und jugendliche Machos
fokussierten. Für die große Mehrheit der Türken gehörten jedoch
Gemeinsinn, Solidarität, kollektives Leben und Vaterlandsliebe zu den
wichtigsten Werten. (S. 22) Für diejenigen, die den deutsch-türkischen Dialog auf gleicher Augenhöhe führen wollen, ein wichtiges informatives Buch. Gisela Jonas
Decker, Oliver: Vom Rand zur Mitte : rechtsextreme Einstellung und ihre Einflussfaktoren in Deutschland
/ Oliver Decker; Elmar Brähler. Unter Mitarb. von Norman Geißler; hrsg.
von der Friedrich-Ebert-Stiftung. – Berlin, 2006. – 184 S. – (Forum
Berlin) ISBN 10: 3-89892-566-8
Fundierte Umfragewerte, die dieser Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung über rechtsextreme Einstellungen und ihre
Einflussfaktoren in Deutschland zu Grunde liegen, bekräftigen einmal
mehr die Erkenntnis, dass die Ausprägung des Rechtsextremismus kein
Randphänomen, sondern ein politisches Problem in der traditionellen
Mitte der Gesellschaft ist. „Rechtsextreme Einstellungen sind durch
alle gesellschaftlichen Gruppen und in allen Bundesländern
gleichermaßen hoch vertreten.“ (S. 157) Zu diesem beunruhigenden
Resultat gelangen die Leipziger Wissenschaftler E. Brähler und O.
Decker in Auswertung einer bundesweiten Datenerhebung, die zuletzt 2006
durchgeführt wurde. Fünftausend repräsentativ ausgewählte Personen
wurden aufgefordert, auf einem Fragebogen zum Rechtsextremismus ihre
Ansichten zu 18 entsprechenden Aussagen in Abstufungen zwischen
Ablehnung und Zustimmung zu äußern (Tab. 2.1.1, S. 32-34). Aus den
Antworten der Befragten wurde ein mehrdimensionales rechtsextremes
Einstellungsmuster abgeleitet. (S. 20). Die sich daraus ergebenden
Daten, ergänzt durch Ergebnisse analoger Befragungen zu politischen
Aspekten wie Einstellung zur Demokratie, Gewaltbereitschaft und
Autoritarismus wurden für die Studie anhand detailliert
aufgeschlüsselten Zahlenmaterials (Tabellen, Diagramme) und
ausführlicher Texterklärungen aufbereitet und transparent gemacht. Es
zeigt sich, dass trotz punktuell unterschiedlicher Werte im
Ost/West-Vergleich bundesweit ausländerfeindliche, chauvinistische und
antisemitische Aussagen die höchsten Zustimmungswerte erhalten (Tab.
2.2.1, S. 43). Die Datenanalyse bestätigt: Ausländerfeindliche
Einstellungen verhärten sich. Fast 40 % der Deutschen vertritt die
Auffassung, dass die Bundesrepublik durch die vielen Ausländer in einem
gefährlichen Maß überfremdet sei (Diagramm 2.1.3, S. 37). Deutlich
wird, dass der Osten Deutschlands für ausländerfeindliche Vorurteile
besonders empfänglich ist. Ausländerfeindlichkeit, so resümieren die
Autoren, „scheint für weite Teile der Bevölkerung, unabhängig von
Geschlecht, Bildungsgrad oder Parteienpräferenz konsensfähig zu sein.“
(S. 159) Der Benutzer der Studie wird mit weiteren Ergebnissen zu
diesem brisanten Thema konfrontiert: Ein hoher Anteil rechtsextrem
eingestellter Deutscher gehört demnach zur Wählerschaft der großen
demokratischen Parteien (Tab. 2.2.8, S. 53). Das Gleiche gilt für
Gewerkschaften (Tab. 2.2.9, S. 54) und Kirchen (Tab. 2.2.10, S. 55). Widerlegt
wird die landläufige Meinung, rechtsextreme Ideologie würde vorwiegend
durch junge Neonazis vertreten. Fakt ist: Mit 41,8 % bilden
Vorruheständler und Rentner die größte Gruppe innerhalb der
rechtsextrem Eingestellten. (S. 113) Auf der Suche nach Ursachen für
Rechtsextremismus zeigt sich nach Auffassung der Forscher, „dass die
Stärke der rechtsextremen Einstellung sowohl mit psychischen als auch
mit sozialen Einflussfaktoren erklärt werden kann.“ (S. 125). In
Relation dazu stehen Demokratiedefizite dieser Gesellschaft wie Armut
und Arbeitslosigkeit, Werteverfall, Bildungsverluste und mangelnde
Transparenz demokratischer Entscheidungsprozesse zur Debatte. Die
vorliegende Daten- und Problemanalyse beinhaltet zwar Überlegungen zu
politischen Konsequenzen, kann aber nicht den Königsweg zur Lösung
dieses gesamtgesellschaftlichen Problems weisen. „Hier ist“, heißt es
abschließend, „jede gesellschaftliche Institution gefragt, über
Strategien gegen Rechtsextremismus nachzudenken und diese umzusetzen.“
(S. 158). An dieser Stelle weisen wir auf eine weitere, ebenfalls
2006 von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Publikation hin:
„Die Ursachen von Rechtsextremismus und mögliche Gegenstrategien der
Politik“ – Dokumentation einer Bürgerkonferenz. Glossar; Literaturverzeichnis. M. Jonzeck
Der Islam in der Gegenwart / Hrsg. Werner Ende; Udo Steinbach. –
5., aktualisierte und erw. Aufl. – Bonn : Bundeszentrale für politische
Bildung, 2005. - 1064 S. (Schriftenreihe; Bd. 501) ISBN 3-89331-625-6
Dieses
erstmals 1984 erschienene Standardwerk wurde 2005 in der nunmehr 5.
Auflage in aktualisierter und erweiterter Form neu veröffentlicht.
Inhaltlich gliedert sich der Band in drei Hauptteile, die nachfolgend
kurz vorgestellt werden sollen: Der erste Teil bietet einen
historischen Überblick über die Entstehung und Ausbreitung des Islam.
Beginnend mit dem Wirken Mohammeds werden darin die Wurzeln dieser
Religion, die Expansionsbestrebungen und ersten Eroberungskriege (durch
die der Islam rasch zu einer Weltreligion aufstieg), konfessionelle
Spaltungen und die Bildung erster islamischer Nationalstaaten
geschildert. Darüber hinaus widmen die Autoren sich auch Fragen von
Theologie und Recht im sunnitischen und schiitischen Islam sowie den
islamischen Erneuerungsbewegungen und fundamentalistischen Strömungen.
Das abschließende Kapitel liefert Zahlen und Informationen zum
gegenwärtigen globalen Anteil der Muslime und ihrer konfessionellen
Zugehörigkeit (aufgrund der schwierigen Quellenlage bzw.
widersprüchlicher Aussagen in den verwendeten Quellen konnte hier ein
Anspruch auf absolute Zahlengenauigkeit nicht erfüllt werden). Der
zweite und umfangreichste Teil befasst sich mit der politischen Rolle
des Islam in der Gegenwart. Hier liegt der eigentliche Schwerpunkt des
Buches und so findet sich, über runde 600 Seiten verteilt, eine
Vielzahl von Unterthemen: Die islamische Ökonomie und Rechtsentwicklung
werden ebenso erläutert wie die innerislamische Diskussion um
Säkularismus, Demokratie und Menschenrechte und die Situation der
Frauen. Weitere Kapitel behandeln: Islamismus, Bruderschaften,
Volksislam, Sekten und Sondergruppen, internationale islamische
Organisationen, Islam in der Diaspora sowie Umgang mit
nichtislamischen Minderheiten. Anhand von 24 ausgewählten Ländern wird
die stark variierende Stellung des Islam in modernen Staatsformen
vorgeführt. Der dritte Teil widmet sich der islamischen Kunst und
Kultur der Gegenwart. Darin werden die Geschichte des Orientalismus,
aber auch Themen wie lokale Traditionen des Islam, islamische Idiome
und der Islam im Spiegel zeitgenössischer Literatur muslimischer Völker
(von koraninspirierten Stoffen bis zu Sozialkritik und moderner
fundamentalistischer Belletristik) behandelt. Auch zeitgenössische
Malerei, Graphik und Architektur (Entwicklung der modernen Kunst, Kunst
als Spiegel der ideologischen Entwicklung, Tradition und
„Verwestlichung“, stilistischer Übernationalismus als Reaktion auf
kulturelle Entwurzelung, islamische Industriebauarchitektur) werden dem
Leser nahe gebracht. Der Anhang enthält: umfangreiche Anmerkungen
sowie ein Literaturverzeichnis zu jedem einzelnen Kapitel,
Erläuterungen zu Umschrift und Aussprache, Personen-, Sach- und
geographisches Register, Kurzinfos zu den Autorinnen und Autoren. Die
Herausgeber beabsichtigten, mit diesem Band ein umfassendes Handbuch
vorzulegen, das sich sowohl an interessierte Laien wie auch an
Studierende wendet. Die Beiträge präsentieren den aktuellen Forschungs-
und Wissensstand in sachlicher Form, die Darstellung wird möglichst
verständlich gehalten und die fachspezifische Terminologie auf ein
Minimum beschränkt. Für die 5. Auflage wurde das Themenspektrum der
Aktualität und den veränderten Interessenschwerpunkten der Leser
angepasst. So wurde u. a. das Kapitel „Der Islam in der Diaspora“
erweitert und auch die spätestens seit dem 11. September 2001
gestiegene Bedeutung des militanten Islamismus und Terrorismus in
verstärktem Maße berücksichtigt. Thomas Wagner
Interkulturell denken und handeln : theoretische Grundlagen
und gesellschaftliche Praxis / Hrsg. Hans Nicklas; Burkhard Müller;
Hagen Kordes. – Frankfurt/Main [u.a.] : Campus-Verl., 2006. – 419 S. –
(Europäische Bibliothek interkultureller Studien; Bd. 12) ISBN-10: 3-593-38020-X
Ebenso
eindeutig wie einleuchtend ist der von den Herausgebern dieses
theoretisch fordernden Handbuches vertretene Kerngedanke, dass die
Bewältigung interkultureller Probleme zu Beginn des 21. Jahrhunderts
„nicht mehr nur eine Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit
Minderheiten ist. Sie ist vielmehr zur allgemeinen Lebensbedingung
geworden ... Wer dies verstehen will, braucht mehr als eine Pädagogik
der kulturellen Integration.“ (S. 12) Davon ausgehend fasst der
thematisch breit gefächerte und differenziert gegliederte Band den
derzeitigen Stand der interkulturellen Diskussion in Deutschland und
Frankreich zusammen. Er bezieht sich dabei auf einen schon 1999 in
Frankreich erschienenen Vorläuferband. Schlüsseltexte daraus, u.a.
Abhandlungen des französischen Philosophen und Sozialpsychologen Jaques
Demorgon, wurden in die vorliegende Edition übernommen. In und mit
ihren mehr als 40 fundierten Einzelbeiträgen zum Thema
Interkulturalität tragen die Autoren – Forscher und Praktiker – dazu
bei, eine oft noch anzutreffende „Begrenzung und Segmentierung der
gesellschaftlichen Auseinandersetzung über den interkulturellen Wandel
Schritt für Schritt zu überwinden.“ (S. 14) Der thematische Bogen
des Buches spannt sich von der Erläuterung oft gebrauchter
Schlüsselbegriffe (Multikultur, Transkultur, Leitkultur, Interkultur;
Ethnien, Nationen, Zivilisationen) und historischer Entwicklungslinien
über interkulturelle Probleme und Handlungsfelder wie Schule,
Sozialarbeit und Gesundheit, Management und Pädagogik internationaler
Begegnungen bis hin zu praktischen Methoden und Interventionsformen in
der interkulturellen Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen. Mit
aktuellen Fragen der Diskriminierung von Migranten setzt sich Axel
Schulte in seinem Beitrag „Diskriminierung als soziales Problem und
politische Herausforderung“ (S.369-380) auseinander. In Bezug auf
wirksame Antidiskriminierungsmaßnahmen warnt der Autor vor allzu
einfachen wie eingleisigen Lösungswegen. Er plädiert für eine
„kombinierte Strategie“ (S. 373) als aussichtsreichste Gegenmaßnahme. Ohne
Zweifel ist das Handbuch sowohl für die Forschung als auch für die
interkulturelle Praxis von besonderer Bedeutung. Seine von den
Herausgebern ausdrücklich betonte Eignung als Nachschlagewerk und
Lehrbuch für die Aus- und Weiterbildung von Lehrern,
Erwachsenenbildnern, Managern und Sozialarbeitern wird es jedoch erst
in der Praxis selbst unter Beweis stellen müssen. Literaturangaben am Ende jedes Beitrags, Register der Schlüsselbegriffe. Marianne Jonzeck
Binationale Gesprächsreihe – Aspekte der Fremdenfeindlichkeit in Europa : die Dokumentation / ein Projekt von Gesicht Zeigen! Aktion weltoffenes Deutschland. – Berlin, 2005. – 182 S.
„Die
Vielfalt ist eine Herausforderung für eine Gesellschaft, nicht die
Einfalt. Gesicht Zeigen! will mit der Binationalen Gesprächsreihe
deutlich machen, dass Antisemitismus und Rassismus kein allein
deutsches Problem sind, sondern auch ein europäisches.“ (Michel
Friedman, S. 44) Von Dezember 2003 bis Oktober 2004 fanden dazu fünf
Podiumsdiskussionen in den Botschaften von Großbritannien, Frankreich,
Österreich, Belgien und der Türkei in Deutschland statt. Sie befassten
sich mit folgenden Themen: Umgang mit Rassismus, Präventionsmodelle,
Rolle der Medien, gesellschaftliche Rolle der Migranten, Umgang mit
Religionsgruppen. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Vergleich zwischen
Deutschland und dem jeweiligen anderen EU-Land. Bei der
Veranstaltung in der Britischen Botschaft ging es z.B. um „die Teilhabe
von MigrantInnen in den Bereichen Politik, Kultur und Gesellschaft. …
EinwanderInnen leben ganz selbstverständlich ihre eigene Kultur und
Religion, … Gleichwohl sind sie Teil der Gesellschaft, dies zeigt sich
vor allem in der Vergabe der britischen Staatsbürgerschaft.“ (S. 167)
Hierin und auch bei der Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie
der EU in nationales Recht liegt ein grundlegender Unterschied zu
Deutschland vor. Im Erfahrungsaustausch zwischen Deutschland und
Frankreich standen die Fremdenfeindlichkeit als
gesamtgesellschaftliches Phänomen sowie die Verantwortung von Politik
und Medien im Mittelpunkt. Dabei zeigten sich Parallelen wie auch
Unterschiede zwischen beiden Ländern. So wurde das so genannte
„Kopftuchproblem“ anders als in Deutschland gelöst. Hoch aktuell für
die gegenwärtige Diskussion in Deutschland (s. erste Islamkonferenz)
dürfte die Gesprächsrunde zum Umgang mit dem Islam in der
Österreichischen Botschaft sein. Als einziges Land in Europa hat
Österreich bereits seit 1912 den Islam als Religionsgemeinschaft
anerkannt. Alleinige Vertretung aller Gruppierungen des Islam in
Österreich ist die „Islamische Glaubensgemeinschaft“. Der muslimische
Religionsunterricht ist seit 1982 an österreichischen Schulen
selbstverständlich. Bildung als Garant für gesellschaftliche und
politische Partizipation der Migranten war das auch für Deutschland
relevante Thema der Podiumsdiskussion in der Belgischen Botschaft. Die
Abschlussveranstaltung in der Türkischen Botschaft griff noch einmal
alle Themen auf, die bereits in anderen Gesprächsrunden behandelt
wurden: Einwanderung, Kultur und Religion der Migranten, Rechte und
Pflichten sowohl der Migranten als auch der aufnehmenden Gesellschaft,
gesellschaftliche Partizipation sowie der EU-Beitritt der Türkei. Im Vorfeld dieser binationalen Gesprächsreihe recherchierte Gesicht Zeigen!
aktuelle landesspezifische Informationen, die in der vorliegenden
Dokumentation der jeweiligen Gesprächsrunde aufgenommen wurden.
Interviews mit den Fachexperten der Podiumsdiskussionen vertiefen
zusätzlich den jeweiligen Themenbereich. Sehr informativ auch der
anschließende Ländervergleich im Hinblick auf: Migrationsgeschichte /
Migration in Zahlen sowie Integration / Zuwanderung,
Staatsbürgerschaftsrecht, Antisemitismus / Islamophobie und
Kopftuchdebatte. Biographische Daten der Podiumsteilnehmer (wie zu
Seyran Ates, Marieluise Beck, Tahar Ben Jelloun, Emine
Demirbüken-Wegner, Renan Demirkan, Michel Friedman, Peter Heine, Bob
Purkiss, Anas Schakfeh und Jozef de Witte) schließen den Band ab. Mit
Bibliographie. Gisela Jonas
Radikale Rechte und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und Polen : nationale und europäische Perspektiven
/ hrsg. von Michael Minkenberg ; Dagmar Sucker ; Agnieszka Wenninger. –
Bonn : Informationszentrum Sozialwissenschaften, 2006. - 306 S. ISBN 3-8206-0152-X (Ausgabe in poln. Sprache ISBN 3-8206-0153-8)
Sechs
Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus sehen sich die
europäischen Demokratien mit einer Renaissance des Rechtsextremismus
konfrontiert. Rechtsradikale Parteien und Bewegungen gehören inzwischen
längst zur politischen Normalität und konnten z. T. besorgniserregende
Erfolge verbuchen. In West- und Osteuropa häufen sich
rechtsextremistisch/rassistisch motivierte Überfälle und
Ausschreitungen, so dass z. B. in Deutschland bereits öffentliche
Warnungen vor so genannten „No Go Areas“ ausgesprochen und diskutiert
wurden. Der vorliegende (als deutsch- und polnischsprachige Ausgabe
veröffentlichte) Band widmet sich diesem bedrohlichen Phänomen in 16
Beiträgen west- und osteuropäischer Autoren. Sie gliedern sich in drei
Hauptabschnitte. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt dabei auf der
Situation in Deutschland und Polen. Der Großteil der hier
gesammelten Beiträge entstand im internationalen Workshop „The Radical
Right and Xenophobia in Germany and Poland: National and European
Perspectives“, der im Rahmen des Deutsch-Polnischen Jahres 2005 von der
Professur für Politikwissenschaft an der Europa-Universität Viadrina
gemeinsam mit der GESIS Servicestelle Osteuropa im November 2005
veranstaltet wurde. Im ersten Abschnitt zu dem Thema
“Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit im Blick der
Sozialwissenschaften: Europa-Deutschland-Polen“ erörtern die Autoren
Ursachen, Ausprägungen und mögliche Zusammenhänge
fremdenfeindlicher/rechtsradikaler Tendenzen sowie den
sozialwissenschaftlichen Forschungsstand zur Thematik. Dabei werden die
Entwicklungen in Deutschland und Polen verglichen, zugleich aber auch
die Erfolge von Rechtspopulisten im gesamteuropäischen Kontext
betrachtet (so z. B. der Aufstieg Pim Fortuyns in den Niederlanden, die
Geschichte des Front National in Frankreich und die aufstrebenden
faschistischen und nationalkommunistischen Parteien in ehemaligen
Warschauer Pakt-Staaten). Im Abschnitt “Politik gegen Rechts“ widmen
sich vier Einzelbeiträge den (partei-)politischen Strategien und
Initiativen gegen Rechtsradikalismus. Ferner werden hier auch die Rolle
des Verfassungsschutzes, die Gesetzeslage und Maßnahmen gegen
Intoleranz erörtert. Dabei wird deutlich, dass von den demokratischen
Parteien und Justizorganen vorwiegend auf eine Strategie staatlicher
Verbote und Repressionen gesetzt, präventive Maßnahmen wie z. B.
aufklärende Jugendarbeit jedoch jahrelang sträflich vernachlässigt
wurden. Unter dem Thema “Zivilgesellschaft gegen Rechts“ befassen
sich Autoren wie Thomas Grumke, Harald Klier und Simone Wiegratz in
ihren Texten mit zivilgesellschaftlichem Engagement und der Rolle von
Nichtregierungsorganisationen im Kampf gegen Rassismus und
Rechtsextremismus. Darin werden u. a. die Tätigkeit der
Antidiskriminierungsstelle des Landes Brandenburg und verschiedene NGOs
und ihre europaweite Vernetzung beschrieben. Der Anhang enthält
Beschreibungen deutscher und polnischer institutioneller
Forschungsprojekte zum Thema Rechtsradikalismus und
Fremdenfeindlichkeit. Mit einer Autorenliste. Thomas Wagner
Zuwanderungsland Deutschland : Migrationen 1500 - 2005 / für das
Deutsche Historische Museum hrsg. von Rosmarie Beier-de Haan. - Berlin
: Deutsches Historisches Museum ; Wolfratshausen : Ed. Minerva, 2005.
- 383 S. : Ill. ISBN 3-86102-136-6 (Museumsausg.) ISBN 3-938832-02-9 (Buchhandelsausg.)
Mit
Blick auf das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene "Gesetz zur
Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des
Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern
(Zuwanderungsgesetz)" präsentierte das Deutsche Historische Museum vom
22. Oktober 2005 bis 12. Februar 2006 unter dem thematisch verbindenden
Titel "Zuwanderungsland Deutschland" die beiden Ausstellungen
"Migrationen 1500 - 2005" und "Die Hugenotten". Dazu erschienen
gleichnamige Begleitbände. Rosmarie Beier-de Haan, Kuratorin der
erstgenannten Ausstellung und Herausgeberin des vorliegenden Katalogs,
reflektiert in ihrem erklärenden Einführungsbeitrag die von einem
weiten Migrationsbegriff ausgehende Zielsetzung des
Ausstellungsprojekts. Es sollte historisch nachgewiesen und anschaulich
gemacht werden, dass Zuwanderung nach Deutschland kein Phänomen etwa
nur des 19. bzw. des 20. Jahrhunderts darstellt, sondern auf eine
annähernd 500-jährige Geschichte zurückblicken kann. "Die Darstellung
beleuchtet schlaglichtartig ... temporäre Arbeitsmigration und
Wanderhandel ebenso wie dauerhafte Einwanderung, Flucht aus religiösen
und politischen Motiven wie auch die Zwangsmigrationen des 20.
Jahrhunderts." (S. 10) Dass Migration demzufolge "eine zentrale
Dimension deutscher Geschichte ist" (S. 12), vermittelt der rundum
überzeugende Katalog sowohl mit seinen profunden Fachaufsätzen als auch
mit seinem umfangreichen Bildteil. Im Rahmen der sich thematisch
aufeinander beziehenden Aufsätze, wissenschaftliche Ergänzung der
Ausstellung "Migrationen 1500 - 2005", nimmt die allumfassende Analyse
von Klaus J. Bade und Jochen Oltmer unter dem Titel "Migration und
Integration in Deutschland seit der Frühen Neuzeit" (S. 20-49) eine
Schlüsselstellung ein. Dieser geschichtliche Exkurs berührt dabei auch
Fragen der empirischen und historischen Migrationsforschung in
Deutschland. Großes Interesse aller an der Migrations- und
Integrationsarbeit Beteiligten dürften ebenfalls Dieter Gosewinkels
Beitrag "Wer ist Deutscher? Deutsche Staatsangehörigkeit im 19. und 20.
Jahrhundert" (S. 90 - 105) sowie der aktuelle Bericht von Steffen
Angenendt über "Migrations- und integrationspolitische Entwicklungen,
Herausforderungen und Strategien in ausgewählten EU-Staaten" (S. 134 -
147) auslösen. Ein Fest für's Auge ist der neben den Fachaufsätzen
zweifellos dominierende Katalogteil mit der bildlichen Wiedergabe von
60 bedeutenden Ausstellungsexponaten. Jedes dieser Ausstellungsstücke
wird im historischen Kontext kommentiert. Es folgen Selbstzeugnisse
- 30 autobiographische Texte in Auszügen - von dauerhaft oder
zeitweilig Zugewanderten; ferner ein Gesamtverzeichnis aller
Ausstellungsobjekte, Literaturhinweise sowie weitere Informationen zu
Ausstellung und Katalog. In diesem opulent ausgestatteten
Foto-Text-Band kann der Leser und Betrachter ungestört
Migrationsprozesse in ihren politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen,
religiösen und kulturellen Zusammenhängen (S. 10) nachvollziehen. Marianne Jonzeck
Smith, David James: Wenn die Welt ein Dorf wäre … :
ein Buch über die Völker der Erde / David J. Smith. Aus d. Engl. von
Hildegard Gärtner. Ill. von Shelagh Armstrong. – Wien ; München :
Jungbrunnen, 2002. – 32 S.: farb. Abb. Einheitssacht.: If the world were a village ISBN 3-7026-5743-6
Dieses Buch richtetet sich an ein Lesepublikum ab 8 Jahren. Dem
Autor nach soll es Kindern helfen, sich die Welt besser vorstellen zu
können. Einhundert Bewohner eines Dorfes vertreten die etwa 6,2
Milliarden Menschen der Erde. Auf farbig illustrierten großen
Seiten werden ihre Herkunft, Sprachen, Altersstufen, Religionen, ihre
Anteile am Reichtum, an Energie, am Wasser, ihre Vergangenheit und ihre
Zukunftsaussichten dargestellt. „Es ist das Bewusstsein, dass
unsere Erde eigentlich ein Dorf ist, ein kleines, wertvolles Dorf, das
wir mit unseren Nachbarn teilen. Das Wissen, wer unsere Nachbarn sind,
wo und wie sie leben, hilft uns, in Frieden mit ihnen zu existieren.“
(S. 30) Die für alle Aussagen verwendeten Quellen und Statistiken stammen aus den Jahren 1991 bis 2001. Bisher
dienten auf statistischen Daten basierende Verkleinerungen der
Weltbevölkerung oftmals zur politisch-korrekten Wahrnehmung von
Ungerechtigkeiten in der Welt. Dass die Methode der Vereinfachung
durch maßstabsgerechtes Minimieren ihre Schwächen hat, zeigt das
Kapitel „Sprachen“. Wie soll sich ein Kind 100 Dorfbewohner vorstellen,
die 6000 Sprachen sprechen? Wenn es den Umstand bedenkt, mit 8
Sprachen mehr als die Hälfte der Dörfler verstehen zu können, bieten
sich mathematisch anspruchsvolle Überlegungen für mögliche
Sprachenaufteilungen innerhalb der übrigen Dorfbevölkerung. Da ein
Modell grundsätzlich Aspekte der Wirklichkeit vernachlässigt, sollte
der aus dem Buch zu ziehende Erkenntnisgewinn nicht gefährdet sein. Thomas Kunzke
Erfolg in der Nische? : die Vietnamesen in der DDR und in
Ostdeutschland / Hrsg. Karin Weiss ; Mike Dennis. – Münster [u.a.] : LIT
Verl., 2005. – 170 S. – (Studien zu
Migration und Minderheiten : Studies in Migration and Minorities; Bd. 13) ISBN 3-8258-8779-0
„Die DDR war ein Paradies. Damals war sie für uns ein
wunderbares Land“ (S. 97), Zitat aus einem von 30 biografischen Interviews mit
ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeitern, geführt zwischen 2002 und 2004.
Diese Interviews werden von Eva Kolinsky
in ihrem Beitrag „,Paradies Ostdeutschland’ – Migrationserwartungen und
Migrationserfahrungen ehemaliger
Vertragsarbeiter und Vertragsarbeiterinnen aus Vietnam“ ausgewertet. Auf der Grundlage des Regierungsabkommens zwischen der DDR
und der SR Vietnam vom 11. April 1980 beziehungsweise der Neufassung vom 1.
Juli 1987 kamen bis 1989 etwa 60 000 Vertragsarbeiter in die DDR. Die Publikation stützt sich auf Ergebnisse eines von der
University of Wolverhampton initiierten und durchgeführten Forschungsprojektes,
an dem auch die Fachhochschule Potsdam beteiligt war. Auf der Datenbasis von
Dokumenten aus der Zeit der DDR untersucht Mike Dennis (Projektleiter) in
seinem Beitrag insbesondere die Lebens- und Arbeitsbedingungen der vietnamesischen Vertragsarbeiter in der
DDR im Zeitraum von 1980 bis 1989. Er stellt fest: „Eine Integration der
Vertragsarbeiter in die DDR-Gesellschaft war dabei weder erwünscht noch
erlaubt, die Vertragsarbeiter lebten in einer geschlossenen separaten Kultur,
die nur punktuell Kontakte zur umgebenden deutschen Gesellschaft entwickeln
konnte, sich aber dennoch auf ihre Weise in dieser Gesellschaft behauptete.“
(S. 10) Andere Kapitel zeigen auf, wie
sich seit der Zeit der Wende die Lebenssituation der ehemaligen
Vertragsarbeiter veränderte. So beschreibt Almuth Berger, damalige
Staatssekretärin für den Bereich Ausländerangelegenheiten, wie aufgrund des
Zusammenbruchs der DDR-Wirtschaft die Arbeitsverträge der Vertragsarbeiter
gekündigt und ihre Wohnheime aufgelöst wurden. Viele mussten das Land verlassen
bzw. waren plötzlich auf sich allein gestellt. An diesem Punkt setzte die
Arbeit der Ausländerbeauftragten in den neuen Bundesländern ein. Eva Kolinsky
schildert in ihrem Beitrag „Das Ende der Unberatenheit – Ausländerbeauftragte
in Ostdeutschland“, wie es gelang, das Amt eines Ausländerbeauftragten
organisatorisch in den Stadtverwaltungen zu verankern. Gemeinsam setzten sich
die Ausländerbeauftragten für ein Bleiberecht der in Ostdeutschland verbliebenen
Vertragsarbeiter ein. 1993 wurde eine erste Bleiberechtsregelung erkämpft und
1997 ein endgültiges Bleiberecht verabschiedet. Karin Weiss beschreibt in zwei
Beiträgen die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Aufenthalt sowie die
berufliche, soziale und ökonomische Situation der ehemaligen Arbeitskräfte aus
Vietnam unter den gegenwärtigen Bedingungen. Sie untersucht insbesondere den
massiven Anstieg von Fremdenfeindlichkeit nach der Wende und hebt hervor, wie
diese zu Solidarisierung, Selbsthilfe und ethnischen Netzwerken der Vietnamesen
führten. Drei persönliche Berichte unterstreichen diese Entwicklung. Dao Minh
Quang befasst sich mit den Strukturen der selbstständigen vietnamesischen
Kleinunternehmer; Phuong Kollath schreibt über den ersten vietnamesischen
Selbsthilfeverein „Diên Hông“ sowie über die Integrationsarbeit in Rostock; Hai
Bluhm berichtet über den Frauenverein „Song Hong“ in Potsdam. Hinzuweisen wäre noch auf einen ergänzenden Beitrag von
Damian Mac Con Uladh, der sich mit den Alltagserfahrungen anderer ausländischer
Vertragsarbeiter in der DDR (aus Ungarn,
Polen, Algerien, Kuba, Mosambik, Angola) auseinander setzt. Quellen- und Literaturangaben. Gisela Jonas
Stöss, Richard:
Rechtsextremismus im Wandel / Richard Stöss; Hrsg. Friedrich-Ebert-Stiftung. - Berlin, 2005. - 224 S.
ISBN 3-89892-392-4
Richard Stöss, Professor
für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, liefert einen
umfassenden Überblick über den deutschen Rechtsextremismus. Ursachen,
historische Hintergründe, Entwicklung, Programmatik und
Organisationsformen in der Bundesrepublik werden fundiert erläutert.
Daneben finden sich auch Informationen zu rechten Subkulturen, dem
rechtsextremistischen Einstellungspotential in der Bevölkerung und zur
Entwicklung des Rechtsextremismus im westeuropäischen Ausland. Die
Wurzeln des deutschen Rechtsextremismus reichen bis ins späte 19.
Jahrhundert zurück. Nationalkonservative Repräsentanten aus Politik,
Landwirtschaft, Mittelstand und Industrie schlossen sich in Verbänden
zum Kampf gegen die "Bedrohung" durch die erstarkende SPD zusammen und forderten eine "Revolution von oben". Im
Verlauf des 1. Weltkriegs entstand die in ihren Grundzügen noch heute
gültige rechtsextremistische Ideologie. Radikale Nationalisten, die
einen Verständigungsfrieden und innenpolitische Reformen um jeden Preis
ablehnten, stellten sich damals gegen die Monarchie und die eigene
konservative Klasse. Rechtfertigung für dieses
fundamentaloppositionelle Verhalten war die Überzeugung, dass das
Deutsche Reich in seinem Bestand durch äußere und vor allem auch innere
Feinde (verkörpert durch Linke und Liberale) bedroht und der
herrschende Konservatismus nicht in der Lage war, dieser Bedrohung
Einhalt zu gebieten. In diesem Zusammenhang gewannen auch krude
Rassentheorien zusehends an Bedeutung, in denen die weltweite Bedrohung
durch das Judentum beschworen und die Höherwertigkeit der germanischen
Rasse propagiert wurde.
Die einseitige
Interpretation und Dramatisierung vermeintlicher Bedrohungen von innen
und außen, das Schüren von Paranoia und Existenzängsten sowie
Propagieren nationalistischen Größenwahns sind bis heute Kernelemente
rechtsextremistischer Strategien. Der deutsche Rechtsextremismus
befindet sich im Wandel und passt sich aktuellen Gegebenheiten an. So
findet sich inzwischen die lange Zeit in der Mittelschicht präsente
Anhängerschaft vorwiegend in den Unterschichten, was
nicht zuletzt auf anhaltenden Sozialabbau und Massenarbeitslosigkeit
zurückzuführen ist. Rechtsextreme Parteien wie NPD, DVU, Republikaner
etc. und deren Jugendorganisationen legen ihre programmatischen Schwerpunkte
heute weniger auf die "klassischen" Themen wie Nationalstolz und
Geschichtsrevision, als vielmehr auf Arbeitsmarkt- und Sozialprobleme
(Hartz IV etc.). So
erreichen sie auch Wählerschichten, die bislang eher von den
etablierten Parteien gebunden wurden. Die Reduzierung rechtsextremen
Wahlverhaltens auf reine Protestmotive ist jedoch eine Verharmlosung.
Statistischen Untersuchungen zufolge betrug das rechtsextremistische
Einstellungspotential in Deutschland 2003 16% (in den neuen
Bundesländern 23%, in den alten Bundesländern 14%). Besonders häufig
finden sich diese Einstellungen bei Arbeitslosen, Arbeitern und
Rentnern. Seit Mitte der 90er Jahre erhalten rechtsextremistische
Parteien und Gruppierungen vor allem in den neuen Bundesländern
verstärkten Zulauf.
Das Buch enthält 20
Tabellen zu Wahlergebnissen und statistischen Untersuchungen sowie im
Anhang Literatur- und Internetangebote und ein Abkürzungsverzeichnis.
Thomas Wagner
Bar-On, Dan: Erzähl dein Leben! : meine Wege zu Dialogarbeit und politischer Verständigung / Dan Bar-On. - Hamburg : Ed. Koerber-Stiftung, 2005. - 267 S. - Aus dem Engl. übers. ISBN 3-89684-044-4
Dan Bar-On, Experte der Dialogarbeit (S. 132) mit verschiedenen sozialisierten Gruppen aus unterschiedlichen Ländern, lehrt und forscht als Professor für Psychologie an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva. "Ein erfolgreicher Dialog zwischen erbitterten Gegnern", resümiert der international anerkannte israelische Psychologe und Konfliktforscher, "ist der kostbarste Teil meiner Arbeit - ebenso die Enthüllung der vielen Schichten eines Interviews, besonders derer, die ganz alltägliche Dinge beschreiben" (S. 216). Deutsche und Juden, Israelis und Palästinenser ermutigte Bar-On, sich gegenseitig ihre persönlichen Lebensgeschichten zu erzählen - storytelling - , um den Abgrund zu überwinden, "den die paradigmatischen Erzählungen' ... ihrer jeweiligen Gesellschaften während des hartnäckigen Konflikts zwischen ihnen aufgerissen haben" (S.35). Bereits zu Beginn der 70er Jahre interviewte der Wissenschaftler Familien von Holocaustüberlebenden. In Deutschland wurde der 2001 mit dem Bundesverdienstkreuz Ausgezeichnete zunächst durch seine Gespräche mit Kindern von NS-Tätern bekannt. In einer nächsten Phase versuchte Bar-On, "die Stimmen beider Seiten des Abgrunds in einen Dialog zu bringen" (S. 216). Er führte Nachkommen von NS-Tätern und Holocaustüberlebenden in der später durch Konfliktpartner aus Südafrika, Nordirland, Israel und Palästina erweiterten TRT-Gruppe (To Reflect and Trust) zusammen. Dieser internationalen Langzeitstudie folgten gemeinsam mit palästinensischen Kollegen und Vermittlern initiierte Dialogprojekte im israelisch-palästinensischen Kontext. In seinem Buch "Erzähl dein Leben!" zieht Dan Bar-On das Fazit seines Lebenswerkes und analysiert im Detail eigene Dialogerfahrungen im Spannungsfeld von top down- und bottom up-Prozessen. Dieser sehr persönliche Bericht schlägt den Bogen von der Familiengeschichte des 1938 in Haifa als Sohn deutscher Juden geborenen Autors über die Beschreibung beruflicher Wege bis zur eigentlichen Dialogarbeit. Die Synthese umfassender Forschungsprojekte und -prozesse erweist sich beim Lesen als ein durchaus aktueller Stoff. Einen breiten Platz darin nehmen Dialog- und Bildungsprojekte vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts ein. Für Multiplikatoren aus Organisationen und Netzwerken dürfte in diesem Zusammenhang besonders das Kapitel "Dialogarbeit in anhaltenden Konflikten" (S. 132-171) von Interesse sein. Aufgeworfen wird hier u. a. die Fragestellung, warum Minderheiten mehr Schwierigkeiten als andere damit haben, "in Konfliktsituationen den Geschichten der dominanten Mehrheit zuzuhören und sie nachzuempfinden" (S. 151). Das wiederum impliziert die Frage, wann eine Geschichte 'gut genug' ist, um Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu erreichen. Seine auch für Gespräche an Dialogtischen sowie Workshops relevanten Aussagen schließt Bar-On mit der Nennung von Kriterien, "mit denen die generelle Idee der Versöhnung empirisch getestet werden kann" (S. 242): Vertrauen, Reflektionsvermögen, Identitätskonstruktion, zeitliche Dimension, Sprache, Zielgruppen, Hoffnung (ebenda). Umfangreiches Literaturverzeichnis. Weitere Werke und Fachartikel des Autors können in der Mediathek der RAA entliehen werden. Marianne Jonzeck
Gauß, Karl-Markus: Die Hundeesser von Svinia / Karl-Markus Gauß. - Wien : Zsolnay, 2004. - 114 S. ISBN 3-552-05292-5
Der mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnete österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß (geb. 1954) bereiste zwischen 2001 und 2003 mehrfach die Slowakei. Er machte sich auf die Suche nach Geschichte und Gegenwart der dort lebenden Roma. In der Slowakischen Republik leben Schätzungen zufolge etwa 400.000 bis 500.000 Roma. Dies entspreche etwa 9% der Gesamtbevölkerung.* In seiner literarischen Reportage berichtet Gauß mit Empathie über die im Elend lebenden Roma in der Ostslowakei. Auf dem Weg zu den "Hundeessern von Svinia", einem der fürchterlichsten Roma-Slums, traf er auf abgelegene ländliche Siedlungen, die auf vergifteten Böden ehemaliger Chemiefabriken errichtet worden waren. In dem früheren Neubaugebiet Lunik IX an den Rändern der Großstadt Kosice, das "zum größten Zigeunerghetto Europas verkommen war" (S.18), machte ihn die französische Architektin Marie Poirot mit den besonderen Lebensumständen und -bedingungen der etwa 4000 bis 6000 dorthin zwangsumgesiedelten Roma bekannt. In Svinia, einem Ort, der jahrzehntelang fast ohne jede Verbindung zur Außenwelt existierte, lebten die Ausgestoßenen unter den Ärmsten der Roma; Menschen, die akzeptiert hatten, "dass sie auf ewige Zeiten Degesi sind, Hundeesser, die von den Roma, die kein Gadsche von ihnen zu unterscheiden vermag, als unrein verachtet und gemieden werden". (S. 107). Nachdem internationale und nationale Hilfsorganisationen dieses Roma-Dorf entdeckt hatten, wurde das "Svinia Projekt" gestartet, mit dessen Initiativen versucht werden sollte, die Roma unter Respektierung ihrer Eigenheiten aus dem Elend herauszuführen. In diesem Zusammenhang stellt Gauß fest: "Vielerorts weigerten sich die Roma jedenfalls, diese Lebensweise, sei sie ihnen gemäß oder erst durch die Zerstörung ihrer Kultur entstanden, aufzugeben. Was uns wichtig ist, scheint sie nicht zu stören, was uns stört, ist ihnen selbstverständlich. Man muss sich hüten, die Unterschiede kleinzulügen und zu glauben, sie würden sich mittels großzügiger Förderung kurzfristig wie von selbst aufheben. Solche Toleranz, die die Roma für fähig hält, gerade so zu leben wie wir und unsere ungeschriebenen Gesetze, die Ruhe, Sauberkeit, das Verhalten in der Öffentlichkeit zu respektieren, solche Toleranz ist nämlich gar keine. Toleranz wird erst draus, wenn man hinzunehmen gelernt hat, dass andere anders leben als wir und auch das Recht dazu haben". (S. 69) Als "Chronist des randständigen Europas" führt Gauß den Leser in seinem 2002 erschienenen dtv Taschenbuch "Die sterbenden Europäer" zu den Sepharden von Sarajevo, Gottscheer Deutschen, Arbereshe, Sorben und Aromunen. In seinem neuesten Reisebuch "Die versprengten Deutschen" ist er unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer. Es erschien 2005 im Wiener Paul Zsolnay Verlag. Gisela Jonas * Slowakei : Massenproteste der Roma : Angehörige der Roma-Minderheit und Polizeikräfte lieferten sich Ende Februar heftige Auseinandersetzungen in der östlichen Slowakei. Auslöser der Proteste war die Ankündigung drastischer Kürzungen der Sozialhilfe. in: Migration und Bevölkerung. - Nr. 2/2004. - S. 1-2
Ich denke oft an den Krieg : mit anderen Augen ; Kinder fotografieren den Krieg in Kosovo = I often think about the war = une mendoj shpesh per luften / [ein Kulturprojekt von Maikäferflieg e.V., KinderKulturBrücke ins Kosovo]. Hrsg. von Anna Berkenbusch ; Maren Niemeyer. - 1. Tsd. - Berlin, 2003. - 175 S. : farb. Abb. ; 20 cm ISBN 3-0001-1083-6
Während des Kosovokrieges begannen Studenten, Lehrer und Künstler aus Berlin eine Foto- und Malaktion mit Kindern. Sechs- bis Vierzehnjährige malten, was sie mit ihren Familien erlebten, als sie im Frühjahr des Jahres 1999 von serbischen Milizen aus ihren Heimatdörfern und Heimatstädten vertrieben wurden. Schulkinder aus Pristina, Prizren und Djakova (Dakovica) fotografierten Monate später mit Einwegkameras und ohne Vorgaben der Initiatoren die vom Krieg veränderte Umgebung. So entstanden etwa 400 Zeichnungen und 1700 Fotos. Die Wanderausstellung "Mit anderen Augen" präsentiert seit April 2000 eine Auswahl der "Kinderbilder". Sie wurde bereits in vielen europäischen Städten gezeigt. Im September 2005 war sie anlässlich einer Veranstaltung des Goethe-Instituts in Beirut zu sehen. Der vorliegende Ausstellungskatalog enthält neben Bildern dreisprachige Texte (Deutsch, Englisch, Albanisch), die von Kindern geschrieben wurden: ein Vorwort und Interviews. Ausstellung und Katalog zeigen, dass Krieg - wenn man ihn überlebt hat - Leben und Alltag nachhaltig verändert. Beim Betrachten wirken Bildmotive der Hoffnung im Kontrast zu denen der Zerstörung. Kinder stehen vor Hausruinen, neben kaputten Autos, in verbrannten Wohnungen. Viele Menschen werden Krieg, Vertreibung, Flucht und Rückkehr in die Heimat nicht vergessen. Das Buch wurde für den Deutschen Designpreis 2005 nominiert. Wer die Ausstellung mieten möchte oder an einzelnen Bildern interessiert ist, der kann sich an Helga Koeppe von MaikaeferFlieg e. V. in Berlin info@maikaeferflieg.de wenden. Thomas Kunzke
Fredrickson, George M.: Rassismus : ein historischer Abriß / von George M. Fredrickson. Aus d. Amerikanischen übers. von Horst Brühmann ; Ilse Utz. - Hamburg : Hamburger Edition, 2004. - 194 S. ISBN 3-930908-98-0
Der amerikanische Historiker bietet einen Abriss der Entwicklung des Rassismus vom Mittelalter bis zur Gegenwart. "Von der Existenz einer rassistischen Einstellung oder Ideologie kann man" so die Definition des Autors, "sprechen, wenn Differenzen, die sonst als ethnokulturell betrachtet werden, für angeboren, unauslöschlich und unveränderbar erklärt werden". (S. 13) Nach dieser Definition behandelt Fredrickson zunächst vornehmlich am Beispiel Spaniens als erster europäischer Kolonialmacht, in der der Keim für westliche Einstellungen gegenüber der indigenen Bevölkerung Südamerikas gelegt wurde, den Übergang von der religiösen Intoleranz des Mittelalters zum sich herausbildenden Rassismus im Zeitalter der Entdeckungen und der Renaissance. Im Folgenden geht es um den Aufstieg moderner rassistischer Ideologien, insbesondere um die Ideologie von der Überlegenheit der weißen Rasse und um den Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert. Die rassistisch-ideologischen Grundlagen von Sklaverei und Segregation in den USA vergleicht der Autor mit dem späteren im Völkermord gipfelnden Antisemitismus des nationalsozialistischen Deutschlands. Die Frage, ob der millionenfache, systematisch und industriemäßig organisierte und betriebene Mord an europäischen Juden überhaupt mit anderen rassistischen Auswüchsen, darunter selbst die brutalsten Formen der Rassendiskriminierung in den amerikanischen Südstaaten oder der Apartheid in Südafrika, vergleichbar ist, stellt sich dem Autor so nicht. Im Epilog widmet sich Fredrickson den spezifischen Ausdrucksformen von Rassismus im 21. Jahrhundert. Zwar seien nach der Niederlage des Nationalsozialismus, den Erfolgen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem Ende des Apartheidregimes "offen rassistische Regimes" in Misskredit geraten, doch bezeugten Kastensysteme und andere Ausbeutungsformen von der Zählebigkeit des Konstrukts unzerstörbarer und unüberbrückbarer Unterschiede zwischen den Menschen. Im abschließenden Anhang (20 S.) "Der Begriff Rassismus im historischen Diskurs" untersucht der Autor wie sich die Forschung mit dem Phänomen des Rassismus als Thema der Geschichtswissenschaft beschäftigt hat. Ein Namen- und Sachregister beschließt den auf umfangreicher Literatur basierenden Band. Wolfgang Voigt
Neuer Antisemitismus? : eine globale Debatte / hrsg. von Doron Rabinovici; Ulrich Speck; Natan Sznaider. - Orig.-Ausg. - Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2004. - 331 S. - (edition suhrkamp; 2386) ISBN 3-518-12386-6
Vor dem Hintergrund jüngster antisemitischer und antiisraelischer Vorfälle in Europa sowie in Ländern des Nahen und Mittleren Ostens beschäftigt viele Menschen zunehmend die Frage, worin die Natur des heutigen Antisemitismus in Deutschland und anderswo bestehe (S. 95) und welche Gefahren von ihm ausgehen. Die Sichtweisen auch der Autoren dieses Sammelbandes, darunter international bekannte Historiker, Politikwissenschaftler und Publizisten von Rang wie O. Bartov, M. Walzer, D. J. Goldhagen, A. Finkielkraut, T. Haury, A. S. Markovits, M. Küntzel, M. Zimmermann und D. Diner, richten sich infolgedessen auf den seit langem zu beobachtenden "Wandel der Kontexte und Bezugspunkte" (S. 7) in der Entwicklung des global agierenden Antisemitismus. Im Mittelpunkt der weltweit geführten Debatte über den "neuen" Antisemitismus steht der Nahostkonflikt, genauer der israelisch-palästinensische Konflikt und die damit verbundene höchst umstrittene Frage, "wo die Kritik an Israels Politik aufhört und Antisemitismus beginnt" (S. 303). Um die von D. Diner angemahnte "Trennschärfe" (S. 312) besonders in der Wahrnehmung und Deutung des israelisch-palästinensischen Konflikts bemüht, betrachten die hier mehrheitlich vertretenen Autoren die Israelkritik in gefährlicher Nähe zum Antisemitismus; andere, wie zum Beispiel T. Judt und J. Butler, relativieren mehr den Vorwurf des Antisemitismus. "Die Auseinandersetzung hat", wie die Herausgeber betonen, "ihren Kern in der Frage, ob gewisse Strömungen des kritischen Diskurses über den Nahostkonflikt durch den Konflikt selbst geprägt werden und durch ihn sachlich gerechtfertigt sind, oder ob der Konflikt nur einen Vorwand darstellt, antisemitische Haltungen und Weltbilder in der Tradition des 'alten' Antisemitismus zu vertreten, maskiert als 'Kritik an Israel'." (S. 10) Behandelt werden weitere Aspekte und Bezugspunkte des "neuen" Antisemitismus wie der von M. Walzer so bezeichnete muslimische Antisemitismus (S.59) und der Antizionismus in der Geschichte besonders der deutschen Linken. Ausführlich und analytisch stringent referiert O. Bartov in seinem Aufsatz "Der alte und der neue Antisemitismus", der die Sammlung der insgesamt 17 originalen Beiträge eröffnet, über die erschreckenden Parallelen zwischen den tradierten und neuen Erscheinungsformen des Antisemitismus. Sein Fazit: "... es gibt eine dem Antisemitismus Hitlers ähnliche Qualität im neuen Antisemitismus" (S. 42). Diesem vielstimmigen Sammelband kommt als vertiefende Lektüre zum Thema und zugleich als theoretische und politische Arbeitsgrundlage auch für Organisationen und Netzwerke große Bedeutung zu. Ungeachtet unterschiedlicher Herangehensweisen und Schlussfolgerungen gehen die Autoren den Quellen, Motiven und Denkmustern des "neuen" Antisemitismus in ihrer historischen Dynamik nach. Die Aufsätze widerspiegeln die Komplexität der auf den verschiedensten Ebenen geführten Diskussionen über den "neuen" Antisemitismus. Verlag und Herausgeber heben deshalb mit Recht hervor, dass der Band den internationalen Stand der Debatte erstmals für das deutsche Publikum erschließe. Einzige Bedingung: Man muss sich auf einen Diskurs einlassen wollen. Weitere Publikationen zum Thema, darunter das 2004 im Verlag C.H.Beck erschienene Werk von W. Benz "Was ist Antisemitismus?" sowie der Titel "Israel, Europa und der neue Antisemitismus" von H. Rauscher, erschienen 2004 im Molden Verlag Wien, sind ebenfalls in der Mediathek der RAA vorhanden. Marianne Jonzeck
Urban, Thomas: Der Verlust : die Vertreibung der Deutschen und Polen im 20. Jahrhundert / von Thomas Urban. - Bonn : Bundeszentrale für politische Bildung, 2005. - 224 S. : Fotogr., Kt. (Schriftenreihe ; 480) ISBN 3-89331-59-4
Dem Autor geht es nicht darum, Schuld und Verbrechen in der Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und seinem östlichen Nachbarn gegenseitig aufzurechnen, sondern er nimmt die Bestrebungen bestimmter Kreise in der Bundesrepublik ein "Zentrum gegen Vertreibung" zu gründen, zum Anlass, einen Beitrag zur Aufhellung der Vertreibungen von Deutschen und Polen seit Ende des 19. vor allem aber im 20. Jahrhundert zu leisten. Vom "Verlust der Heimat" waren seit der Dritten Teilung Polens 1795 vor allem Polen betroffen: jene, die aus den nun preußisch gewordenen Landesteilen verdrängt wurden und jene, die aus den unter zaristische Herrschaft gelangten Gebieten nach Sibirien deportiert wurden, "um den Polen die Idee von der Unabhängigkeit auszutreiben" (S. 17). Die ambivalente Stellung Polens zwischen Deutschland und Russland zeigte sich auch nach dem Ersten Weltkrieg mit dem wieder erstandenen unabhängigen polnischen Staat, gefolgt von Ausweisungen und Umsiedlungen. Einen Hauptteil des Bandes nimmt die Darstellung der nationalsozialistischen Okkupations- und Vernichtungspolitik in Polen seit 1939 ein - beginnend mit den rassistischen Judenverfolgungen in Deutschland und der Ausweisung jüdischer Bürger nach Polen 1938. Andererseits verließen viele Deutsche ihre Heimat in Polen in Folge von Repressionen seitens der polnischen Behörden (dass diese von den Nationalsozialisten weidlich propagandistisch ausgenutzt wurde, um eine antipolnische Stimmung zu schüren, erwähnt Urban nicht). Ähnliche Vorkommnisse (Repressionen, Verschleppung vieler Polen nach Sibirien oder Kasachstan) gab es auch in den von der Sowjetarmee im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes besetzten polnischen Gebieten. Im überfallenen Polen setzten die deutschen Okkupanten ihren Vernichtungsfeldzug gegen polnische Bürger, vor allem jüdische, fort. Vertreibung von Haus und Hof, Ermordung und Einlieferung in Konzentrationslager kennzeichneten das Wesen der deutschen Vertreibungspolitik. "Rassische Flurbereinigung" erfolgte vor allem bei den Bestrebungen, sogenannte "Mustergaue" wie im Wartheland zu installieren. Den umfangreichsten Teil der Untersuchung nehmen die im Ergebnis der Konferenzen von Jalta und Potsdam erfolgten Umsiedlungen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße zwischen 1945 und 1948 sowie die "Repatriierung" von Polen aus Ostpolen ein. Beides sollte nach dem Willen der Siegermächte in "geordneten Verhältnissen" stattfinden. Die Realität war, wie auch der Verfasser im einzelnen schildert, von Willkür, Härte und Verbrechen begleitet. Angesichts der von Urban materialreich dargelegten Entwicklungen, einschließlich der Zwangsumsiedlungen von Ukrainern aus Südostpolen in die Sowjetunion oder in die Oder-Neiße-Gebiete 1946/47 und den Spätaussiedlern ab 1956, geht er der Frage nach, ob dieses überhaupt mit den nationalsozialistischen Verbrechen und dem Völkermord zwischen 1939 und 1945 vergleichbar ist. Daran anknüpfend analysiert er die Politik der verschiedenen Regierungen der Bundesrepublik, der DDR und Polens in der Vertriebenenfrage und der neuen Grenzziehungen an Oder und Neiße und am Bug. Während die DDR bereits 1950 im Abkommen von Görlitz die Oder-Neiße-Grenze als "endgültige Friedens- und Freundschaftsgrenze" anerkannt hatte, war die Haltung der Bundesregierungen lange Zeit vom Kalten Krieg und den Aktivitäten diverser Landsmannschaften geprägt. Erst 1990, mit den veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen durch den Bankrott der sozialistischen Länder, erkannte die Bundesregierung mit dem deutsch-polnischen Grenzvertrag die Westgrenze Polens an und strich aus dem Grundgesetz die Passage über die Grenzen von 1937. Wolfgang Voigt
Schwelien, Michael: Das Boot ist voll : Europa zwischen Nächstenliebe und Selbstschutz / von Michael Schwelien. - 1. Aufl. - Hamburg : marebuchverl., 2004. - 209 S. ISBN 3-936384-47-9
Die Boote sind voll - in beeindruckender Weise schreibt Michael Schwelien über Aspekte der Einwanderung von Menschen nach Europa. Statistische Aussagen und die zusammengetragenen Informationen über den Beitritt europäischer Staaten zum Schengen-Verbund, asylrechtliche Hintergründe, Menschenhandel und Schlepperbanden, wirtschaftliche Interessen, Ausbeutung, Prostitution, in Deutschland verhandelte Gerichtsfälle, Hilfsorganisationen und nicht zuletzt berührende Einzelschicksale beleuchten phänomenologisch eine weltweit oft grausame Wirklichkeit. Das über die gut lesbare Zustandsbeschreibung hinausgehende Versprechen des Autors, "einen Weg aus dem Dilemma, einen dritten Weg zwischen Ausbeutung und Abweisung" (S. 16) zu zeigen, gelangt - wen wundert es? - zum Ende des Buches nicht zur Einlösung. "Die Ausländer kommen. Sie werden gebraucht. Aber sie kommen illegal. Und so kommen auch viele, die wir nicht wollen. Wir vergeben uns die Möglichkeit, die Einwanderung nach unseren Bedürfnissen zu steuern. Und die Illegalen zahlen weder Steuern (außer der Mehrwertssteuer) noch Sozialabgaben." (S. 208). Also letztlich doch wieder Splitten in nützliche, integrationswillige usw. und in nicht nützliche Ausländer, denen wir nach unseren Bedürfnissen die vom Autor empfohlene Einbürgerung (in Quoten; dem Rückgang der Bevölkerung und dem Arbeitsmarkt angeglichen) gewähren oder deren Einreise wir verbieten und verhindern! Wer in diesem Zusammenhang sind "wir", deren Interessen zur Regulierung einer globalen Entwicklung als Maßstab genommen werden? Haben nicht "unsere Interessen" (z. B. durch Rüstungsexporte) anteilig Verelendung und Kriege in der Welt ausgelöst? Der Zusatztitel zum Buch "Europa zwischen Nächstenliebe und Selbstschutz" wirkt irreführend, wenn Flüchtlinge aus Jugoslawien als Bedrohung für Europa angesehen werden, wenn Fristenregelungen im Zuwanderungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung für Menschen aus den neuen EU-Ländern beschränken. Sollte tatsächlich die angestrebte Erhaltung der "Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik" die von Michael Schwelien so präzise beschriebene Tendenz des globalen Armutsgefälles umkehren können? Wer an weiteren gut recherchierten Arbeiten und Themen des Journalisten und Autors interessiert ist, der kann die derzeit 32 archivierten Artikel von Michael Schwelien in unserer Mediathek nachlesen. Thomas Kunzke
Winter, Bernd: Gefährlich fremd : Deutschland und seine Einwanderung / von Bernd Winter. - Freiburg i. Br. : Lambertus, 2004. - 162 S.
ISBN 3-7841-1543-8
Ausgehend von der Tatsache, dass die unterschiedlich auftretenden Rassismen immer mit den jeweiligen Gesellschaften auf spezifische Weise verknüpft waren und sind, arbeitet der Autor heraus, wie in der Bundesrepublik Deutschland "Rassismus und Migration aufeinander bezogen sind und in welchem historisch-gesellschaftlichen Kontext sich rassistische Diskriminierung und Gewalt entfalten und (re)produzieren" (S. 16).
Einführend werden die Begriffe Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Fremdenfeindlichkeit und Xenophobie auf Gehalt und Unterscheidung befragt. Die wissenschaftliche Debatte nach 1945 um den Rassismusbegriff wird ausführlich analysiert. Im Mittelpunkt jedoch steht die Migrationsgeschichte in Deutschland seit den 50er Jahren. Es wird untersucht, "unter welchen Prämissen die deutsche "Ausländerpolitik" stand bzw. (heute) steht und wie sich die innenpolitische Debatte seit Ende der 70er Jahre gegen MigrantInnen verschärft" (S. 18). Als Höhepunkt des deutschen "Anti-Immigrationsrassismus" bezeichnet der Autor die Übergriffe auf Flüchtlinge und MigrantInnen 1992 in Rostock-Lichtenhagen: "Der Name Rostock wurde in diesem Zusammenhang zu einem erschreckenden und warnenden Synonym für Rassismus in Deutschland, dem ein mörderischer Mix aus politischem Kalkül, weit verbreiteten rassistischen Einstellungen in der Bevölkerung, hetzerischer Medienberichterstattung sowie struktureller Diskriminierung von Minderheiten zugrunde liegt" (S. 71). Des weiteren thematisiert der Autor die soziale, politische und kulturelle Diskriminierung und Segregation der MigrantInnen, insbesondere ihre Stellung auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssystem. Das Meinungsklima der Deutschen ihnen gegenüber spielt eine hervorgehobene Rolle. In diesem Zusammenhang wird das Verhältnis von Ethnizität und Nation betrachtet: "Die Selbstethnisierung vieler Deutscher als kulturell homogene Nation" (S. 93) etablierte die Grenzziehung zwischen "Fremden" und "Zugehörigen" und wird von Winter anhand der Debatte um die "deutsche Leitkultur" und um den "Multikulturalismus" eingehend diskutiert. Anschließend zeigt er auf, wie die Ausgrenzung der MigrantInnen mittels ethnischer Stigmatisierung durch die Mehrheitskultur häufig deren Selbstethnisierung und räumliche Segregation zur Folge hat. Resümee: "Um Rassismus zu bekämpfen, müsste vor allem die ethnische Schichtung und Segregation der deutschen Sozialstruktur durchbrochen werden" (S. 8). Umfangreiche Anmerkungen und Literaturverzeichnis. Gisela Jonas
eine Zusammenstellung ausgewählter Buchtipps 2005 - 2008 pdf-file
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