Informationen aus dem Ausschuss für Wirtschaft und Währung des
Europäischen Parlaments von Sahra Wagenknecht, MdEP, Mitglied in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL).

News from the Committee on Economic and Monetary Affairs (ECON)

25.10.2007

Kein Beitrag zu Wachstum, Beschäftigung oder sozialer Gerechtigkeit
    Ergebnis der Abstimmung über Bericht zur EU-Steuerpolitik am 24.10. 07
Für eine andere Steuerpolitik der EU!
    Rede von Sahra Wagenknecht im Europäischen Parlament am 23.10.07
EU-Verfassung Reloaded
    Warum der Reformvertrag abgelehnt werden muss
Hintergrund: Vom Verfassungs- zum Reformvertrag
    Wohin steuert die EU?
Keine Meldung wert?
    Über 200.000 Menschen demonstrierten in Lissabon für ein soziales Europa
Rekommunalisierung statt EU-Liberalisierung
    Workshop zu kommunalen Antworten auf den wachsenden europäischen Privatisierungsdruck
Wenn Blasen platzen
    Die Krise am Hypothekenmarkt und ihre internationalen Auswirkungen

Kein Beitrag zu Wachstum, Beschäftigung oder sozialer Gerechtigkeit

Zur Abstimmung des Europäischen Parlaments am 24.10.2007 über ihren Bericht zur EU-Steuerpolitik erklärt Sahra Wagenknecht, Europaabgeordnete der Partei DIE LINKE:

Das Europäische Parlament hat in seiner heutigen Abstimmung gezeigt, dass es mehrheitlich eine Steuerpolitik befürwortet, die den Oberen Zehntausend nutzt, jedoch zum Nachteil der großen Mehrheit der Bevölkerung in der EU ist. Zwar wurden einige meiner Vorschläge angenommen - schließlich plädiert niemand gern offen für steigende Mehrwertsteuersätze, höhere Steuern auf Arbeitseinkommen oder verbesserte Möglichkeiten des EU-weiten Steuerdumpings. Die von uns eingebrachten Vorschläge zur Erhöhung von Steuern auf Vermögen oder Finanztransaktionen sowie auf Begrenzung des Steuerdumpings durch Einführung von EU-weiten Mindeststeuern auf Unternehmensgewinne wurden jedoch von einer Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt.

Da der endgültige Bericht über den Beitrag der europäischen Steuer- und Zollpolitik zur Lissabon-Strategie nach den Einzelabstimmungen mit meinem ursprünglichen Berichtsentwurf kaum noch etwas gemeinsam hatte und den im Wirtschaftsausschuss abgestimmten Bericht in bestimmten Punkten noch weiter verschlechtert hat, sah ich mich gezwungen, meinen Namen von dem Bericht zurückzuziehen und dazu aufzurufen, in der Endabstimmung gegen den Bericht zu stimmen. Ich sehe es als positiv an, dass relevante Teile der Sozialdemokraten den Bericht in der Endfassung ebenfalls nicht mehr mittragen konnten, wie die Endabstimmung mit nur 323 Ja-Stimmen bei 214 Gegenstimmen sowie 120 Enthaltungen zeigt.

Vertan wurde heute die Chance, Forderungen nach einer gerechteren und sozial verträglichen Steuerpolitik deutlich als Position des Europäischen Parlaments zu verankern. Stattdessen wurde einmal mehr die verfehlte Politik der EU von der Mehrheit des Europäischen Parlaments kritiklos bestätigt.

Sahra Wagenknecht, Strasbourg, den 24.Oktober 2007

Für eine andere Steuerpolitik der EU!

Rede von Sahra Wagenknecht im Europäischen Parlament am 23.10.07

Werte Kolleginnen und Kollegen,

die Frage, ob die Steuerpolitik der EU-Staaten gegenwärtig einen Beitrag zur Förderung von Wachstum, Beschäftigung und Innovation leistet, lässt sich leider sehr knapp beantworten: Sie tut es nicht.

Denn Wachstum wird nicht gefördert, indem man die Steuersätze hochprofitabler Konzerne in einem europaweiten Dumpingwettlauf dem freien Fall preisgibt, und im Gegenzug Normalverdiener, Rentner und Arbeitslose als Verbraucher immer brutaler zur Kasse bittet.
Wachstum wird auch nicht gefördert, indem man Arbeitseinkommen um ein Vielfaches mehr belastet als Einkommen aus Vermögensbesitz und die Kluft zwischen beiden immer größer wird.

Beschäftigung wird nicht gefördert, indem investierende Kleinunternehmen ungleich höher besteuert werden als das spekulative Herumspielen mit Aktien, Bonds und Finanzderivaten.

Innovation wird nicht gefördert, solange Multis mit goldgeränderten Bilanzen einen Großteil der Subventionen für Forschung und Entwicklung auf ihren Konten bunkern, während die, die diese Unterstützung wirklich dringend brauchten, im Regen stehen bleiben.

Kurz: Eine sozial ausgeglichene Entwicklung und Perspektive der EU wird nicht begünstigt, sondern geradezu abgewürgt, solange die, die im Geld schwimmen, durch Steuergeschenke immer weiter gemästet werden, während jenen, die ohnehin wenig haben, immer tiefer in die Tasche gegriffen wird. Eine solche Steuerpolitik ist konjunkturpolitisch fatal, wachstumspolitisch kontraproduktiv und sozialpolitisch eine Katastrophe.

Auf dem Papier ist die Gestaltung der nationalen Steuersysteme heute Sache der Mitgliedstaaten. Die Realität sieht anders aus. Tatsächlich bewirkt das Fehlen einer EU-weiten Koordination im Bereich der direkten Steuern, dass die nationalen Steuersysteme zunehmend gar nicht mehr politisch gestaltet, sondern von der eiskalten Logik des Steuerwettbewerbs geformt und geprägt werden.

Diese Logik ist auf einen einfachen Nenner zu bringen: Je mobiler ein Faktor, desto größer ist sein Erpressungspotential gegenüber den nationalen Steuerbehörden, und desto umfassender sind die Steuererleichterungen, die er durchsetzen kann.

Sollen in diesem Prozess die staatlichen Einnahmequellen nicht gänzlich austrocknen, müssen zur Kompensation die Bereiche umso stärker belastet werden, die der Besteuerung kaum ausweichen können.

Steuern werden daher verlagert von Unternehmensgewinnen auf private Einkommen, hier von Kapitaleinkommen auf Arbeitseinkommen, innerhalb der Arbeitseinkommen von hochbezahlter auf weniger bezahlte Arbeit und, generell, von Einkommen und Vermögen auf Konsum.

Dass dieser Prozess läuft, läßt sich anhand der Entwicklung von Steuersätzen und Steuereinnahmen in der EU klar belegen. So sind nicht nur die gesetzlichen sondern auch die effektiven Steuersätze auf Unternehmensgewinne in der EU allein im vergangenen Jahrzehnt um über 10 Prozentpunkte gefallen.

Nahezu überall wurden die Spitzensteuersätze gesenkt. In immer mehr Ländern werden private Kapitaleinkommen durch den Übergang zu dualen Steuersystemen massiv gegenüber Arbeitseinkommen priveligiert. Schliesslich steigen die Verbrauchssteuern. Zum einen sogenannte Ökosteuern auf Strom, Gas und Kraftstoffe, die aber oft genug mangels Wahlmöglichkeiten einfach nur die Haushalte schröpfen und keinerlei ökologische Lenkungswirkung haben. Zum anderen die Mehrwertsteuern, die sich in immer mehr Ländern dem oberen Ende des vereinbarten Mehrwertsteuer-Korridors annähern.

Diese Entwicklung ist kein Zufall, sondern direkte Konsequenz ungehinderten Steuerwettbewerbs auf einem einheitlichen Binnenmarkt. Es muss schon zu denken geben, dass der Abwärtstrend der Unternehmensteuern innerhalb der EU den in der Gesamt-OECD weit in den Schatten stellt. Es handelt sich also offenbar nicht um die gern beschworenen Zwänge der Globalisierung, sondern zu einem erheblichen Teil um hausgemachte Zwänge. Zwänge, die sehr wohl auch eigenständig überwunden werden könnten.

Entsprechend enthielt mein ursprünglicher Bericht die Forderung nicht nur nach einer Common Consolidated Corporate Tax base, die er unterstützt, sondern auch nach EU-weiten Mindeststeuersätzen auf Unternehmensgewinne, die von keinem Land mehr unterschritten werden dürfen. Denn nur solche Mindestsätze bieten die Chance, den Abwärtswettlauf bei den Unternehmenssteuern tatsächlich zu stoppen. Mein Bericht enthielt die Forderung nach einer EU-weit stärkeren Besteuerung von Vermögen und Finanztransaktionen, die Forderung, Arbeitseinkommen im unteren und mittleren Bereich deutlich zu entlasten und schließlich die Forderung, die unsägliche Verschiebung der Steuerlast von direkten auf indirekte Steuern umzukehren.

Von diesen Forderungen ist nach der Abstimmung im Wirtschaftsausschuss nur ein Bruchteil übrig geblieben. Stattdessen wurde ein Hohelied auf den Steuerwettbewerb aufgenommen, in völliger Ignoranz gegenüber seinen verheerenden Konsequenzen für die Einnahmen der öffentlichen Haushalte und damit für die Lebensverhältnisse der großen Mehrheit der EU-Bürger.

Diese Veränderungen zeigen ziemlich deutlich, wessen Interessen der Mehrheit der Mitglieder im Wirtschaftsausschuss, namentlich der konservativen und liberalen Fraktionen, tatsächlich am Herzen liegen. Denn die Profiteure des herrschenden Steuerregimes sind offensichtlich.

Wir haben unsere wichtigsten Forderungen jetzt noch einmal als Anträge eingebracht. Sollten sie auch im Plenum keine Mehrheit finden, wird meine Fraktion gegen den Bericht stimmen.

Eine andere Steuerpolitik in der EU, die soziale Kontraste verringert statt sie noch mehr zu verstärken, wäre sehr wohl möglich. Sie setzte allerdings voraus, dass die herrschende Politik in der EU-Kommission wie in den Mitgliedstaaten tatsächlich die Interessen der Mehrheit der Europäerinnen und Europäer zu ihrer Richtschnur macht, statt, wie bisher, als Interessenvollstrecker der Oberen Zehntausend zu fungieren.

Dazu wird sie wohl nur durch stärkeren parlamentarischen und außerparlamentarischen Druck zu bringen sein. Darum werden wir uns weiter bemühen, damit irgendwann die unsägliche Schönrednerei sozial unerträglicher Verhältnisse, wie sie die meisten Berichte und eben jetzt auch diesen Steuerbericht charakterisiert, auch in diesem Hause nicht mehr mehrheitsfähig ist.

Sahra Wagenknecht, Strasbourg, den 23. Oktober 2007

EU-Verfassung Reloaded

Zur Einigung der europäischen Staats- und Regierungschefs auf einen neuen Reformvertrag erklärt Sahra Wagenknecht, Europaabgeordnete und Mitglied des Vorstands der Partei DIE LINKE:

„Die Zustimmung der europäischen Regierungschefs zum Reformvertrag zeugt von einer unerträglichen Arroganz der Macht. Dass die EU-Verfassung bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden durchgefallen ist, dass viele Millionen Menschen in Europa die militaristischen und neoliberalen Inhalte der EU-Verträge ablehnen und eine sozialere Ausrichtung der EU-Politik einfordern, wird einfach ignoriert. Dabei sind die Inhalte des Reformvertrags mit jenen des gescheiterten Verfassungsentwurfs weitgehend identisch. Nach wie vor werden die EU-Mitgliedstaaten zur Aufrüstung genötigt und in ihrer Wirtschaftspolitik auf neoliberale Grundsätze verpflichtet. Dagegen sucht man ein Verbot von Angriffskriegen in dem intransparenten Vertragswerk ebenso vergebens wie das von Bundeskanzlerin Merkel einst versprochene Protokoll zur sozialen Dimension der EU.

Mit dem Reformvertrag wurde die gescheiterte Verfassung in ein neues Gewand gekleidet, um weitere Volksabstimmungen leichter umgehen zu können. Ob man über die Wünsche und Interessen der Menschen in Europa so einfach hinweggehen kann, wird sich allerdings noch zeigen. Nach einer Umfrage der Financial Times wünschen sich 76 Prozent der Deutschen ein Referendum über den Reformvertrag, und auch in Großbritannien, Frankreich, Italien und Spanien wollen im Durchschnitt 70 Prozent der Befragten über die zukünftige vertragliche Grundlage der EU mitentscheiden. Diesen Willen gilt es nun zu unterstützen und durchzusetzen! Ein Europa der Konzerne, wie es Verfassungsentwurf und Reformvertrag vorsehen, widerspricht den Interessen und Erwartungen der Lohnabhängigen und der Völker in Europa. Wer ein friedliches, soziales und demokratisches Europa will, muss den Reformvertrag ebenso bekämpfen wie die EU-Verfassung!"

Sahra Wagenknecht,                             Brüssel, den 19. Oktober 2007

Hintergrund: Vom Verfassungs- zum Reformvertrag

Ergänzte und aktualisierte Fassung eines Artikels von Andreas Wehr im Neuen Deutschland vom 18.10.07

"Der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden keinen Verfassungscharakter haben: Der Ausdruck 'Verfassung' wird nicht verwendet." Darüber hatte sich der Europäische Rat bereits im Juni 2007 verständigt. Dahinter steht natürlich die Angst, dass bei einem Festhalten am Reizwort Verfassung die Öffentlichkeiten der Mitgliedsländer Volksabstimmungen über sie verlangen könnten. Doch solche Referenden sollen unter allen Umständen vermieden werden, steckt doch den herrschenden Eliten noch immer der Schreck über ihre Niederlagen in Frankreich und in den Niederlanden im Sommer 2005 in den Knochen.

Auf dem EU-Gipfel am 18. und 19. Oktober in Lissabon hat man sich daher nicht auf einen Verfassungsentwurf, sondern nur auf einen Reformvertrag zur Änderung der bestehenden europäischen Verträge geeinigt. Erarbeitet wurde dieser Reformvertrag einmal mehr in nichtöffentlichen Sitzungen hinter verschlossenen Türen – wie es schon bei den vorangegangenen Vertragsänderungen von Maastricht, Amsterdam und Nizza der Fall war.

Arbeitet man sich nun mühsam durch die Formulierungen dieses Reformvertrags durch, so stellt man am Ende fest, dass er sich inhaltlich so gut wie nicht vom gescheiterten Verfassungsvertrag unterscheidet. Nehmen wir etwa die Wirtschaftspolitik: Die seit Maastricht im EG-Vertrag stehenden und in den Verfassungsvertrag übernommenen neoliberalen Inhalte bleiben unverändert erhalten. Keine Rede ist mehr von einem Sozialprotokoll, das selbst Kanzlerin Merkel dem Verfassungsvertrag nach seinem Scheitern in Frankreich und in den Niederlanden noch beifügen wollte. Allein bei den Werten der Union verzichtet man auf die Herausstellung "eines Binnenmarktes mit freiem und unverfälschten Wettbewerb". Damit aber klar ist, dass sich damit inhaltlich nichts ändern soll, wird sogleich ein Protokoll über den Binnenmarkt und den Wettbewerb angefügt, wonach zur EU "ein System gehört, dass den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt".

Erhalten bleiben auch die Vorschriften des Verfassungsvertrages zur weiteren Militarisierung der Union. So findet man in Artikel 27 den berüchtigten Satz aus dem Verfassungsvertrag wieder, wonach sich "die Mitgliedstaaten verpflichten, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern". Auch bleibt es bei der vertraglichen Verankerung der Rüstungsagentur. Des weiteren wird der Weg für ein militärisches "Kerneuropa" frei gemacht: Laut Protokoll Nr. 4 können einzelne Staaten der EU eine "strukturierte Zusammenarbeit" begründen, z.B. um gemeinsame Kampfeinsätze bzw. "Missionen" durchzuführen. Weder das Europäische Parlament noch der Europäische Gerichtshof sollen das Recht erhalten, über diese Militäreinsätze mitzuentscheiden.

Was das Demokratiedefizit der EU angeht, so wird es vom neuen Reformvertrag so wenig wie vom alten Verfassungsvertrag beseitigt. Zwar sollen die Staaten aus der EU wieder austreten dürfen, es wird ein europäisches Bürgerbegehren eingeführt und das Europäische Parlament soll über Gesetzesvorhaben häufiger "miteintscheiden". Doch weder erhält das Europäische Parlament ein Initiativrecht zur Einbringung eigener Gesetzesvorhaben, noch findet eine ausreichende Kontrolle der Kommission durch das Parlament statt. Bei der Neuregelung des Abstimmungsverfahrens im Rat bleibt es bei der Umstellung auf das demografische Prinzip. Der Gewinner wird danach Deutschland sein, das seinen Anteil auf Kosten der kleineren Länder mehr als verdoppeln kann.

Die Charta der Grundrechte ist im Reformvertrag nicht mehr länger integraler Bestandteil des Vertrages. Es wird vielmehr nur noch auf sie verwiesen. Großbritannien und Polen legen in Protokoll Nr. 7 darüberhinaus fest, dass die Charta zu keiner Ausweitung der Befugnisse des Europäischen Gerichtshofes hinsichtlich der Rechtsordnungen dieser beiden Länder führt. Der Text der Charta selbst bleibt unverändert. Sie enthält weiterhin nicht das Recht auf Arbeit, wie es in den Verfassungen von immerhin dreizehn Mitgliedsländern und in den meisten Landesverfassungen Deutschlands verankert ist. Auch kennt sie nicht eine dem Grundgesetzartikel Art.14 Abs. 2 entsprechende Sozialpflichtigkeit des Eigentums und schon gar nicht einen dem Artikel 15 GG entsprechenden Sozialisierungsartikel.

Der Reformvertrag weist nur wenige, vergleichsweise geringfügige Verbesserungen auf. Hierzu zählen einige Bestimmungen, in denen die Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten gegenüber dem Machtanspruch Brüssels verteidigt bzw. gestärkt werden. So wird die den nationalen Parlamenten eingeräumte Frist für Subsidiaritätskontrollen geringfügig von sechs auf acht Wochen verlängert und laut Protokoll Nr.2 kann ein Gesetzesvorhaben der Kommission zu Fall gebracht werden, wenn es nach Meinung von 55 % der Ratsmitglieder oder einer Mehrheit im Europäischen Parlament nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip im Einklang steht. Ferner wird es ein neues Protokoll über Dienste von allgemeinem Interesse (Protokoll Nr. 9) geben, in dem "die wichtige Rolle und der weite Ermessensspielraum der nationalen, regionalen und lokalen Behörden" hervorgehoben werden.

Was die zentralen institutionellen Änderungen betrifft, so sind diese im Reformvertrag ebenso wie im gescheiterten Verfassungsvertrag enthalten: Künftig wird es einen EU-Ratspräsidenten geben, der für zweieinhalb Jahre ernannt wird und es wird das Amt eines europäischen Außenministers geschaffen, der sich allerdings nur "Hoher Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik" nennen darf. Die Zahl der Kommissare und der Abgeordneten im Europaparlament wird verringert und statt des bislang dominanten Konsensprinzips wird es häufiger Mehrheitsentscheidungen geben. All diese Änderungen werden es leichter machen, sich über die Interessen von Minderheiten in der EU hinwegzusetzen - was dem gleichberechtigten und konfliktfreien Miteinander nicht unbedingt zuträglich sein wird.

Angesichts der weitgehenden Identität von Verfassungs- und Reformvertrag behält die Grundsatzkritik von links ihre Gültigkeit. Aktuell bleiben etwa der Parteitagsbeschluss der PDS vom Oktober 2004, die Position der Delegation der Partei Die Linke in der GUE/NGL zum Verfassungsvertrag und das Memorandum für eine demokratische, freiheitliche, soziale und Frieden sichernde Europäische Union von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine aus dem Januar 2007. Vor allem aber bleibt die Forderung nach Volksabstimmungen in allen Mitgliedsländern hochaktuell, denn die Ablehnungen in Frankreich und in den Niederlanden haben gezeigt, dass die Beschlüsse der Regierenden noch lange nicht identisch mit den Meinungen der Völker sind.

AW

Keine Meldung wert?

Über 200 000 Menschen haben am 18. Oktober anlässlich des EU-Gipfels in Lissabon für ein sozialeres Europa und für die Rechte der Beschäftigten demonstriert. Nach Angaben des portugiesischen Gewerkschaftsbundes CGTP, der zu den Protesten aufgerufen hatte, war es die größte Protestkundgebung, die in den letzten 20 Jahren in Portugal stattgefunden hat.

Im Fernsehen oder in den großen Zeitungen war von diesen Protesten aber so gut wie nichts zu sehen oder zu lesen. Schließlich paßten die Proteste nicht in das offizielle Bild vom EU-Gipfel, welches von obligatorischen Erfolgsmeldungen geprägt war. Nicht nur, dass man es den Menschen in Europa verwehren will, in Volksabstimmungen selbst über den Reformvertrag und damit über die künftige Ausrichtung der EU zu entscheiden. Die europäischen Staats- und Regierungschefs scheinen auch fest entschlossen zu sein, alle Proteste und jegliche Kritik am Reformvertrag konsequent zu ignorieren.

Da viel zu viele Medien diesen "Tunnelblick" der Herrschenden übernommen und die Proteste totgeschwiegen haben - zu den wenigen lobenswerten Ausnahmen zählte ein Bericht in der Tageszeitung junge welt - soll an dieser Stelle auf ein paar kritische Seiten und Stellungnahmen zum Reformvertrag aufmerksam gemacht werden:

Seite von MdEP Tobias Pflüger zum Reformvertrag

Attac Österreich: Stellungnahmen zum Reformvertrag

Attac Deutschland: EU-Verfassung

Themenseite "Europäische Union" der Linksfraktion im Bundestag

Die europäischen Attacs sagen nein zum Reformvertrag

Stellungnahme der Partei der Europäischen Linken (EL) zum Reformvertrag

Stellungnahme von kommunistischen und Arbeiterparteien und fortschrittlichen Linkskräften zum Reformvertrag

LK

Rekommunalisierung statt EU-Liberalisierung

Im Rahmen der Konferenz "Öffentliche Unternehmen stärken! Privatisierungen stoppen!" am 10. November in Hannover findet ein Workshop statt, der sich mit Alternativen zur europäischen Privatisierungs- und Liberalisierungspolitik beschäftigt.

Der Workshop wird zum einen der Frage nachgehen, welche Strategie seitens der EU (Kommission, EuGH u.a.) verfolgt wird, um die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienste in den Mitgliedstaaten durchzusetzen. Zum anderen soll die Frage diskutiert werden, wie dem wachsenden Liberalisierungs- und Privatisierungsdruck auf kommunaler Ebene begegnet werden kann. Was kann man z.B. von Städten lernen, die öffentliche Aufgaben rekommunalisiert haben?

Als Referenten stehen Prof. Dr. Jörg Huffschmid (Universität Bremen, Netzwerk PRESOM (Privatisation and the European Social Model), Euromemorandum-Gruppe u.a.) Andreas Wehr (Mitarbeiter der Linksfraktion GUE/NGL) und Dr. Ing. Hans-Joachim Peters (Technischer Beigeordneter der Stadt Bergkamen, Betriebsleiter des neu gegründeten Entsorgungsbetriebes Bergkamen) zur Verfügung.

Weitere Informationen zum Workshop finden Sie hier; den Folder zur Konferenz mit Informationen zum Veranstaltungsort können Sie hier
herunterladen.

Wenn Blasen platzen

Die Krise am Hypothekenmarkt und ihre internationalen Auswirkungen

Artikel von Sahra Wagenknecht, erschienen in der Tageszeitung 'junge welt' am 15. und 17. September 2007

»…daß eine Anhäufung, eine Überreich­lichkeit von Leihkapital stattfinden kann, die nur insofern mit der produktiven Akkumulation zusammenhängt, als sie im umgekehrten Verhältnis dazu steht.« »Andererseits aber kompliziert sich teils durch einfache Wechselreiterei, teils durch Warengeschäfte zum Zweck der bloßen Wechselfabrikation der ganze Prozeß so sehr, daß der Schein eines sehr soliden Geschäfts und flotter Rückflüsse noch ruhig fortexistieren kann, nachdem die Rückflüsse in der Tat schon längst nur noch auf Kosten teils geprellter Geldverleiher, teils geprellter Produzenten gemacht worden sind. Daher scheint immer das Geschäft fast übertrieben gesund gerade unmittelbar vor dem Krach.« Karl Marx, »Das Kapital«, 3. Band

Es lief alles so gut. Noch im Frühjahr badeten die großen Geldhäuser im warmen Dollarregen. Josef Ackermann setzte sein unangenehmstes Lächeln auf und präsentierte für die Deutsche Bank das »beste Quartal der Unternehmensgeschichte«: Der Gewinn war erneut um 30 Prozent nach oben geschossen, die Eigenkapitalrendite lag bei satten 41 Prozent. Dieses Glanzergebnis verdankte das Institut in erster Linie seinen Investmentbankern, die drei Viertel des Vorsteuergewinns des Konzerns erwirtschafteten. Die sprudelnden Erträge flossen also zum überwiegenden Teil nicht aus dem klassischen Kreditgeschäft, sondern aus dem Spiel mit Ak­tien, Schuldverschreibungen und Derivaten sowie aus der Begleitung und Beratung von Unternehmensübernahmen. Insbesondere letztere boomten wie nie zuvor und fluteten die Kassen der Investmenthäuser mit leicht verdienten Provisionseinnahmen.

Im ersten Halbjahr 2007 war das Volumen der Firmenaufkäufe weltweit auf die einsame Rekordsumme von 2,7 Billionen Dollar geklettert. Angetrieben wurde dieser Prozeß nicht zuletzt von sogenannten Private-Equity-Firmen, deren Geschäftsidee darin besteht, halbwegs gesunde und ertragsstarke Unternehmen kreditfinanziert aufzukaufen, ihnen die Schulden für den Kauf in die Bilanzen zu drücken, alles Verwertbare rauszuholen und sie anschließend mit halbierter Belegschaft und hoher Schuldenlast an den nächsten Glücksritter weiterzureichen. Für den Private-Equity-Hai lohnt sich das Geschäft sogar dann, wenn von dem Unternehmen am Ende nur eine überschuldete Konkursmasse übrigbleibt. Denn das eingesetzte Kapital plus Rendite holt er sich über Sonderausschüttungen, für die dem Unternehmen weitere Schulden aufgebrummt werden, in der Regel bereits nach kurzer Zeit zurück. Leveraged Buyout (LBO) ist der offizielle Name für solcherart kreditfinanzierte Raubzüge. Leidtragende sind natürlich die Beschäftigten, aber auch die Allgemeinheit, denn ein Teil der lukrativen Rendite stammt aus Steuervorteilen, die die Finanzinvestoren im Vergleich zu normalen Unternehmen genießen, und die durch geschicktes Steuerdumping ausgebaut werden.

Ende der Hausse

Allein im ersten Halbjahr 2007 wurden Unternehmen im Wert von 644 Milliarden Dollar auf diese Weise aufgekauft, soviel wie im ganzen Jahr 2006 und das Doppelte des Jahreswertes von 2005. Und die Banken standen Schlange, um das Treiben der Private-Equity-Häuser mit billigem Kreditgeld – immerhin werden in der Regel 80 Prozent des Kaufpreises über Kredit finanziert– am Laufen zu halten. Die übernommenen Unternehmen wurden immer größer, die Preise immer exklusiver. Einer der spektakulärsten Coups war die Übernahme des 80-Prozent-Anteils am Autokonzern Chrysler durch den US-Finanzinvestor Cerberus für zwölf Milliarden Dollar. Bereits unterschrieben waren Kaufverträge in der Größenordnung von je fast 50 Milliarden Dollar für den Energieversorger TXU, den kanadischen Telefonkonzern Bell Canada oder den Kreditkartenabwickler First Data.

Aber plötzlich geht nichts mehr. Selbst bereits abgemachte Deals wie die genannten oder der Aufkauf der US-Getränkesparte von Cadbury Schweppes für acht Milliarden Pfund durch ein Konsortium von Private-Equity-Gesellschaften liegen erst mal auf Eis. Neue Großprojekte werden kaum noch eingefädelt. Sogar der Chrysler-Kauf stand zwischenzeitlich auf der Kippe, weil die Finanziers kalte Füße bekamen. Cerberus mußte eine Kreditlinie des Verkäufers Daimler in Anspruch nehmen, mit den Banken nachverhandeln und deutlich tiefer in die eigene Tasche greifen. Weit und breit keine Bank mehr, die sich darum drängt, immer gewagtere Freßzüge der Heuschrecken mit billigem Geld zu alimentieren. Im Gegenteil, neuerdings horten die Geldhäuser jeden Dollar, den sie greifen können. Selbst an Banken wird Bares nur noch ungern und mit erhöhtem Zinsaufschlag weitergegeben. Letzteres hat die Zentralbanken nun schon mehrfach auf den Plan gerufen, die den Geldmarkt mit milliardenschweren Liquiditätsspritzen wieder zu verflüssigen suchen. Mit schwachem Erfolg. Nicht zu vergessen: Auch der Aktienmarkt hat seine Hausse beendet, schwankt stark und geht im Trend nach unten. Insbesondere Bankaktien werfen die Anleger vorsichtshalber schon mal aus dem Portefeuille.

Alptraum Eigenheim

Unmittelbarer Auslöser dieses ganzen Ungemachs ist ein Ereignis, das auf den ersten Blick gar nichts mit dem globalen Handel von Unternehmen und Unternehmensteilen zu tun hat: die Krise am US-Hypothekenmarkt. Daß es im Geschäft mit amerikanischen Baudarlehen kriselt, wurde spätestens im April augenscheinlich, als einer der größten Arrangeure von Sub­prime-Hypotheken in den USA, das Unternehmen New Century, Konkurs anmelden mußte. Anfang August folgte der zehntgrößte US-Hypothekenfinanzierer American Home Mortgage Investment. Seither hat jeder Nachrichtenzuschauer weltweit ein neues Wort gelernt: Subprime-Kredite.

Mit diesem eleganten Terminus werden Kredite umschrieben, die an Familien vergeben werden, deren Einkommensverhältnisse von vornherein ahnen lassen, daß sie die Zins- und Tilgungslasten nicht schultern können. Da diese Familien in der Regel auch keine Ersparnisse haben, wird das Eigenheim meist zu 100 Prozent finanziert. Die Zinsen sind oft am Anfang niedrig und ziehen erst später an, um das Angebot attraktiv erscheinen zu lassen. Wer würde schon einen Kredit aufnehmen, dessen Zins und Tilgung bereits im ersten Monat das Anderthalbfache des Einkommens beträgt? So droht das dicke Ende, das den Traum vom Eigenheim in einen Alptraum verwandelt, meist erst nach einigen Monaten oder sogar Jahren. Insgesamt wurden in den letzten Jahren in den USA Subprime-Hypotheken im Gesamtwert von 1,5 Billionen Dollar vergeben. Dem Wert nach ein Viertel aller vermittelten Hypotheken ging 2006 an Kreditnehmer mit ungesichertem oder schlicht zu niedrigem Einkommen.

Dabei gerieten schon in jenem Jahr trotz robuster Konjunktur immer mehr amerikanische Häuslebesitzer in Zahlungsschwierigkeiten. Jeder fünfte Inhaber einer Subprime-Hypothek war im Februar 2007 in Zahlungsverzug. Mittlerweile werden monatlich doppelt so viele Häuser zwangsversteigert wie noch vor einem Jahr. Nach offiziellen Zahlen werden die Kredite von etwa zwei Millionen US-amerikanischen Hauseigentümern als gefährdet angesehen. Mindestens 500000 von ihnen droht in naher Zukunft der Verlust des Hauses.

Auch Bushs vor kurzem gönnerisch aufgelegter Plan, umgeschuldete Hypothekenkredite unter bestimmten Bedingungen staatlich zu versichern, hilft den meisten Betroffenen wenig. Denn in den Genuß einer solchen Rückversicherung kommt nur, wer in den letzten sechs Monaten tadellos seinen Zahlungsverpflichtungen nachgekommen ist, mindestens drei Prozent Eigenkapital besitzt und regelmäßiges Einkommen nachweisen kann. Gerade diejenigen, denen das Wasser bis zum Hals steht, fallen damit durchs Raster.

Und dazu gehören weit mehr als die eigentlichen Subprime-Kreditnehmer. Die Rating­agentur Moody's äußerte inzwischen ebenfalls Zweifel an der Werthaltigkeit sogenannter Alt-A-Hypotheken, der nächsthöheren Kreditklasse im Vergleich zu Subprimes. Da immer mehr variabel verzinste Hypotheken vergeben wurden, ist die Kreditbelastung der Haushalte über die Jahre kontinuierlich angewachsen. Immerhin hat die US-Notenbank Federal Reserve die Zinsen seit 2004 von ein Prozent schrittweise auf über fünf Prozent hochgeschleust. In geradezu perfider Weise hatte der damalige US-Notenbankchef Alan Greenspan übrigens vor Beginn dieses Erhöhungszyklus die Werbetrommel für variabel verzinsliche Hypotheken gerührt, die das gesamte Zinsrisiko dem Hausbesitzer aufladen. »Die amerikanischen Konsumenten würden davon profitieren«, hatte Greenspan geflötet, »wenn Kreditgeber mehr Alternativen zu traditionellen festverzinslichen Hypotheken anböten. Diese traditionellen festverzinslichen Hypotheken scheinen eine teure Methode für den Kauf eines Hauses zu sein.« Nun ja, die Profiteure des Hypotheken-Hype werden es ihm gedankt haben. Denn ohne den Schein vermeintlich billiger Darlehen, deren tatsächliche Kosten sich erst später herausstellten, wäre der ganze Spuk am US-Immobilienmarkt sicher schon vor zwei oder drei Jahren vorbei gewesen.

Globale Subprime-Krise

Die wachsende Zahl an Zwangsversteigerungen als solche hätte den Hypothekenmarkt allerdings nicht in die Krise getrieben. Denn solange dank steigender Immobilienpreise der Notverkauf des Hauses den Gegenwert des Darlehens plus Rendite wieder einzuspielen verspricht, bleibt das Geschäft attraktiv genug, um das Rad immer weiter zu drehen. Selbstredend interessiert keinen Investor, ob die betreffenden Familien am Ende noch ärmer und verzweifelter dastehen als vor ihrem Ausflug in die Welt der Eigenheimbesitzer. Was die Geldgeber interessiert, ist, mit welcher erwartbaren Verzinsung ihr Kapital zurückfließt. Ein Mann namens Kal El-Sayed, der neun Jahre lang für den Subprime-Finanzierer New Century gearbeitet und vielleicht einigen tausend Familien die am Ende unbezahlbaren Baudarlehen angedreht hat, brüstete sich noch im März 2007, einen Monat vor dem Konkurs des Unternehmens, in der New York Times: »Wir konnten gar nicht glauben, wieviel Geld wir gemacht haben. Und wir mußten nichts dafür tun. Nur erscheinen.«

Erst, als die Schwächezeichen am US-Immobilienmarkt nicht mehr übersehbar waren und wegen erwartbar fallender Häuserpreise die Refinanzierung der immer teureren Hypotheken über den Hausverkauf nicht mehr gesichert schien, war die Party zu Ende. Seither kriecht das Gespenst der Subprime-Krise um die Welt, verdirbt Finanz­instituten unterschiedlichster Couleur die Bilanzen und bricht auch schon mal dem einen oder anderen unsanft das Genick. Noch im Juni mußte die US-Investmentbank Bear Stearns öffentlich eingestehen, wegen gewaltiger Verluste im Handel mit subprime-basierten Kreditderivaten zwei Hedge-Fonds schließen zu müssen. Damit hatte die Hypothekenkrise die Wall Street erreicht. Von da aus ging es quer über den Globus. Ob IKB Bank und Sachsen LB in Deutschland, BNP Paribas in Frankreich, die Hedge Fonds Caliber Global Investment und Queen's Walk in London, der australische Basis Yield Alpha Fund oder die Bank of China, überall tauchen unversehens rote Zahlen auf, die in einigen Fällen zum Konkurs, in anderen zum Verkauf oder zu massiven Stützungsaktionen führten. Und alle Beobachter sind sich einig, daß die bisher verbuchten Verluste allenfalls die Spitze eines Eisbergs sind. Die US-Börsenaufsicht SEC hat bereits angekündigt, die Bilanzen der großen Investmentbanken genauer zu prüfen, da bisher auffällig wenige Wallstreet-Häuser Verluste ausgewiesen haben.

Spielgeld für Hedge-Fonds

Wie kommt es, daß sich Zahlungsschwierigkeiten US-amerikanischer Häuslebauer in Windeseile zur globalen Finanzkrise auswachsen können? Tatsächlich wäre ein solcher Vorgang noch vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen. Er wurde möglich durch die nahezu vollständige Deregulierung der legal handelbaren Finanzkonstrukte und die gänzliche Liberalisierung der globalen Finanzströme. Der klassische Kreditmechanismus bestand bekanntlich darin, daß eine Bank die auf der Passivseite ihrer Bilanz verbuchten Spareinlagen an bestimmte Kreditnehmer– also Unternehmen oder eben auch Hausbesitzer– weitergab und aus der Differenz zwischen Einlagen- und Kreditzins ihren Gewinn zog. Da Bankkredite aufgrund gesetzlicher Bestimmungen mit einem gewissen Volumen an Eigenkapital unterlegt sein müssen und außerdem ein Teil der Einlagen als Mindestreserve auf einem Konto bei der Zentralbank verbleiben muß, hatte die Kreditgewährung in diesem Rahmen klare Grenzen. Außerdem trug die kreditgebende Bank das volle Ausfallrisiko, hatte daher auch ein großes Interesse, ihr Geld nur an zahlungsfähige Kreditnehmer weiterzugeben. Aus beiden Gründen wäre eine Kreditexplosion, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben, unmöglich gewesen.
Aber das war gestern. Heute sind gerade die großen Banken bestrebt, nur als Arrangeure der Kredite zu fungieren und die Risikopositionen möglichst schnell weiterzuverkaufen. Zu den gefeierten Finanzinnovationen, die genau das ermöglichen, gehören sogenannte Asset Backed Securities (ABS), also verbriefte Kreditpakete, die durch einen wirklichen oder vermeintlichen Vermögenswert (asset) gesichert sind. Eine Untergruppe davon sind die Residential Mortgage Backed Securities (RMBS). In letzteren werden Hausdarlehen unterschiedlicher Risikoklassen zu einem Bündel zusammengeschnürt. Wie der Käufer einer Aktie Anspruch auf einen Anteil am Unternehmensgewinn erhält, so erwirbt der Inhaber solcher Schuldverschreibungen Anspruch auf einen Anteil an den Zins- und Tilgungszahlungen. Der Fundamentalwert eines solchen Papiers richtet sich also nach den erwarteten Erträgen, die wiederum nicht nur von der Höhe der gebündelten Darlehen und dem Zinssatz abhängen, sondern auch von dem Prozentsatz fauler Kredite, die im Pool versteckt sind. Letzteren kennt keiner genau, und darin liegt das Risiko.
Der Trick besteht nun darin, diese Papiere in mehreren Tranchen, meistens drei, am Markt zu plazieren, wobei diese Tranchen Zahlungsausfälle in unterschiedlicher Weise auffangen. Die untere Tranche ist die risikoreichste, die nur mit einem hohen Risikoabschlag verkäuflich ist. Werden am Ende doch weniger Kredite faul als angenommen, verhelfen diese Tranchen ihrem Käufer zu einer überproportionalen Rendite. Sie sind daher ideales Spielgeld für Hedge-Fonds, deren Eigenheit ja gerade darin besteht, aus hochriskanten Anlagen überproportionale Renditen zu schlagen. Die zweite Tranche, mezzanine genannt, scheint schon weniger risikoreich, denn sie wird von Zahlungsausfällen nur betroffen, sofern diese ein gewisses Ausmaß übersteigen. Die obere Tranche schließlich gaukelt Sicherheit vor, obwohl das Kreditpaket in der Regel hochriskante Darlehen enthält. Aber da die Erträge der oberen Tranche von Ausfällen nur betroffen werden, wenn diese eine im historischen Vergleich ungewöhnliche Größenordnung erreichen, wurde diese Tranche von den Ratingagenturen mit der Höchstnote »AAA« bewertet. Sie wurde damit faktisch als ebenso sicher eingestuft wie Bonds (verzinsliche Wertpapiere) von General Motors oder Staatsanleihen der Bundesrepublik Deutschland.

Vorgegaukelte Sicherheit

Mit der Konstruktion der RMBS war allerdings der Wildwuchs an fiktivem Kapital, der hier wucherte, noch nicht zu Ende. Der nächste Schritt bestand darin, je etwa hundert verbriefte Hypothekenbündel selbst wieder zu einem Päckchen zusammenzuschnüren. Solche Päckchen sind die Collateralised Debt Obligations (CDO), die nach dem gleichen Muster an den Markt gebracht wurden. Auch hier gibt es verschiedene Tranchen, die verschiedene Risikoklassen repräsentieren. Diese Vehikel werden außerbörslich gehandelt und wurden von Europa über China bis Australien als überproportionaler Renditebringer mit scheinbar niedrigem Risiko und attraktives Spekulationsobjekt von Bank Conduits, Hedge-Fonds, aber auch Versicherungen und Pensionsfonds mit Euphorie gekauft.

Der Trick mit der doppelten Verbriefung und den verschiedenen Tranchen erlaubte es also, hochriskante Kredite in eine scheinbar sichere Anlageform zu transformieren. Und weil sie als sicher galten, war die Nachfrage groß, wobei der Verkauf den arrangierenden Banken den Spielraum zur Vergabe immer neuer Kredite ohne eigenes Risiko eröffnete.

Inzwischen ist klar, daß die Ratings der CDO's ebenso verlogen waren wie einst die von Enron, Worldcom oder Parmalat, die ebenfalls bis kurz vor ihrem bitteren Ende Bestnoten erhalten hatten. Da Ratingagenturen eben nicht externe Beobachter, sondern satte Mitverdiener des Verbriefungshandels und -schwindels waren, sollte darüber auch niemand wirklich überrascht sein. Im Grunde war klar, daß die den Ratings zugrunde liegenden langfristigen Erfahrungswerte über Zahlungsausfälle bei Hypotheken schon deshalb nicht aussagekräftig sein konnten, weil es derart laxe Standards bei der Kreditvergabe und einen derartigen Turmbau ausstehender Hypotheken mit zudem tendenziell steigendem Zinssatz tatsächlich nie zuvor gegeben hat. Die Crux der ganzen Entwicklung besteht also darin, daß just diese Finanzinstrumente, die durch vorgegaukelte Sicherheit ein boomendes Segment von Hochrisiko-Baudarlehen überhaupt erst möglich gemacht haben, eben damit die Grundlagen zerstörten, auf denen ihre eigene Bewertung beruhte.
Natürlich konnte das jeder vorher wissen. Aber solange das Geld in Strömen floß und sich Kreditvermittler, Banken, Ratingagenturen, Hedge-Fonds und sonstige Investoren am Aufblähen der Kreditblase eine goldene Nase verdienten, solange gab es eben nur ein Interesse: Das Rad, koste es, was es wolle, am Laufen zu halten. Allein im Jahr 2006 wurden noch einmal Hypotheken im Gesamtwert von 2,5 Billionen Dollar an den Mann beziehungsweise die Frau gebracht. Verbrieft wurden Hypotheken im Wert von 1,9 Billionen Dollar, etwa ein Viertel davon mit Subprime-Status. Diese Unsummen lassen den Umfang an Vermittlungs- und Beratungsgebühren ahnen, die die diversen Akteure dabei in die eigenen Taschen schaufeln konnten. Nicht zu reden von den Gewinnen aus dem spekulativen Kauf und Weiterverkauf solcher Papiere. Die zehn größten Hypothekenfirmen in den USA wußten schon, warum sie in den letzten Jahren etwa 185 Millionen Dollar in die Lobbyarbeit investierten, damit bloß nicht eine stärkere politische Regulierung der Kreditstandards ihnen das flotte Geldeinstreichen verdürbe.

Die US-Investmentbanken waren keineswegs die einzigen, die ein Interesse daran hatten, daß das Geschäft mit der Verschuldung der amerikanischen Haushalte möglichst lange weiterlaufen konnte. Vielmehr war die exorbitante Aufblähung der privaten Verschuldung seit mindestens einem Jahrzehnt die Lebensader, die die amerikanische und in gewisser Hinsicht sogar die Weltökonomie auf Touren hielt. Ein altes Grundproblem des Kapitalismus besteht bekanntlich darin, daß die Profite einerseits umso höher sind, je weniger Zugriff die Arbeitenden auf den von ihnen produzierten Reichtum haben, daß sich andererseits aber deren Ausbeutung nicht auszahlt, wenn die Produkte am Ende keinen Käufer finden.

Es gab historisch verschiedene Versuche, diesem urkapitalistischen Dilemma zu entkommen. Ein zeitweise möglicher Ausweg ist der keynes­ianische, mittels staatlicher Kreditaufnahme zu­sätzliche Nachfrage zu schaffen, die – im Unterschied zu steigenden Löhnen – für das Kapital nicht gleichzeitig als Kostenfaktor zu Buche schlägt. Wird dieser Weg allerdings zu forsch beschritten, steigen längerfristig meist die Zinsen, was produktive Investitionen auch nicht eben ermutigt. Eine andere Variante ist der Weg der Bundesrepublik Deutschland, über rüdes Lohn- und Steuerdumping den Binnenkonsum weitgehend abzuschnüren, auf diese Weise jedoch international gut dazustehen und seinen Absatz durch Unterbieten der Konkurrenten in anderen Teilen der Welt zu finden.

Das US-amerikanische Wachstumsmodell der letzten Jahre wiederum ist eine dritte Variante wenn zwar nicht zur Auflösung, so doch zum Hinaussschieben des kapitalistischen Akkumulationsproblems. Passend zum neuzeitlichen Privatisierungstrend handelt es sich faktisch um eine Art Privat-Keynesianismus: Nicht der Staat nimmt rote Zahlen in Kauf, um der Wirtschaft mehr Absatz zu verschaffen (obwohl auch das unter Bush wieder stattfindet, besonders im Rüstungssektor), sondern die große Mehrheit der Bevölkerung halst sich privat einen wachsenden Berg Schulden auf, um einen Konsum zu finanzieren, der auf Grundlage ihrer Löhne und Gehälter nicht möglich gewesen wäre.

Wachstum auf Pump

Tatsächlich lag der reale Stundenlohn in der privaten US-Wirtschaft, wenn höheres Management und leitende Tätigkeiten herausgerechnet werden, im Dezember 2000 mehr als fünf Prozent unter dem des Jahres 1979 (Robert Brenner, The Boom and the Bubble). Das mediane Familieneinkommen war in den Neunzigern und auch nach der Jahrtausendwende trotz angeblichen Wirtschaftsbooms kaum gestiegen. Für die unteren 20 Prozent der Familien ging es weiter zurück.

Der Konsum dagegen wuchs in stattlichen Raten und hielt so die gesamte Wirtschaft auf Trab. Verantwortlich dafür war einerseits ein exzessiver Luxuskonsum der US-amerikanischen Oberschicht, die von jahrelanger politischer Umverteilung, großzügigen Steuergeschenken und natürlich vom Börsen- und Kreditboom profitierte. Zweite Triebkraft war das durch leichte Hypotheken, lange Zeit niedrige Zinsen und scheinbar endlos steigende Immobilienpreise angeheizte Wachstum im Baubereich. Drittens aber wurden die Hypotheken eben nicht nur und nicht einmal hauptsächlich zur Finanzierung von Hauskäufen verwandt. Sie dienten gleichermaßen zur Umschuldung von Außenständen bei Kreditkarten und anderen Konsumentenkrediten oder schlicht zur ergänzenden Finanzierung des Lebensunterhalts. So wurde oft genug die vorhandene Hypothek aufgestockt oder sogar das vorher schuldenfreie Haus nur zu dem Zweck beliehen, Geld für Konsumzwecke flüssigzumachen.

Die Lockangebote und scheinbar billigen Baukredite verführten also nicht nur Familien, die es sich eigentlich gar nicht leisten konnten, zum Hauskauf beziehungsweise zum Kauf eines zu teuren Hauses. Sie animierten vor allem zur immer höheren Beleihung bereits vorhandener Immobilien, scheinbar abgesichert durch deren virtuell wachsenden Marktwert. Graphik 1 zeigt die Entwicklung der jährlich neu aufgenommenen Hypothekendarlehen (abzüglich Tilgung) und der Bauinvestitionen privater Haushalte, jeweils im Verhältnis zum verfügbaren Einkommen. Man sieht, daß sich beide Größen lange Zeit parallel entwickelt haben, was einfach nur bedeutet, daß Hypotheken eben zur Finanzierung von Hauskäufen verwandt wurden. Mitte der neunziger Jahre dagegen begann der Wert der neuen Hypotheken zu explodieren, während für den tatsächlichen Kauf neuer Häuser geringere Teile des Einkommens verausgabt wurden als in den späten siebziger Jahren.

Immer neue Schulden

Dabei sind Hypotheken keineswegs die einzigen Schulden, die den US-Haushalten das Einkommen wegfressen. Auch andere Arten von Konsumentenkrediten sind üppig vergeben worden, und auch da gibt es erste Zeichen, daß der mit Zins und Tilgung abgemolkene Verbraucher irgendwann einfach keine Milch mehr geben kann. So ist die Zahl der Kreditkartenausfälle in den ersten fünf Monaten dieses Jahres um etwa 30 Prozent angestiegen. »Es ist sichtbar geworden«, sorgte sich das Handelsblatt vor einer Woche, »daß die Erosion in der Kreditqualität sich von Immobilien auf andere Bereiche ausweitet wie Autos und Kreditkarten«. Auch Autofinanzierungen und Kreditkartenschulden wurden übrigens in Schuldverschreibungen verpackt und in die weite Welt verkauft.

Was die US-amerikanischen Mittelschichten mit den immer neuen Schulden finanzierten, waren tatsächlich nur selten Luxusgüter. Es waren vielmehr in der Mehrzahl banale Dinge wie Krankenhausrechnungen oder Schulgebühren. Oft war überhaupt nur über den Weg steigender Verschuldung der gewohnte Lebensstandard aufrechtzuerhalten, weil Preise für elementare Dienste weit schneller stiegen als das Einkommen. Viel schneller auch, als der offizielle Verbraucherpreisindex ausweist. Wieviel die US-Haushalte verschiedener Einkommensgruppen für welche Arten von Konsum ausgegeben haben, läßt sich an Statistiken wie dem jährlich erhobenen Consumption Expenditure Survey (CEX) ablesen. Da beim CEX, wie bei den meisten derartigen Panels, die wirklich Reichen ausgeklammert bleiben, vermitteln die Daten ein relativ gutes Bild von den Konsumgewohnheiten der Mittelschicht und der ärmeren Haushalte.

Wenn vom Luxusrausch der amerikanischen Konsumenten gesprochen wird, werden unter dieser Rubrik normalerweise Ausgaben für neue Autos, teure Kleidung, Schmuck, Funparks, Reisen, Unterhaltungselektronik oder Urlaubswohnungen verstanden. Summiert man eben diese Ausgabearten nach den CEX-Daten und berechnet ihren Anteil am verfügbaren Einkommen, ergibt sich allerdings kein steigender, sondern seit den achtziger Jahren ein fallender Trend. Graphik 2 zeigt den Verlauf dieser Ausgabenkurve für das dritte, vierte und obere Fünftel der vom CEX erfaßten Haushalte – also die eigentlichen Mittelschichten – und für den Durchschnitt. Von überzogenem Hang zum Luxus kann offensichtlich keine Rede sein. Deutlich gestiegen, auch das zeigt der CEX, sind im Gegensatz zu den Luxuskategorien vielmehr die Ausgaben für Gesundheit und Bildung und alles rund ums eigene Haus.

Ohne die aufgeblähte Kreditblase wäre das Wachstum der US-Wirtschaft zweifellos längst zum Erliegen gekommen. Aber auch durch beispiellose Konsumentenverschuldung lassen sich die Akkumulationsnöte der Profitwirtschaft eben nur überbrücken und nicht lösen. Irgendwann ist das Limit erreicht, jenseits dessen Verschuldung nicht mehr wachsen kann. Und dann verkehrt sich die Dynamik ins Gegenteil, weil nicht nur schlechte Löhne, sondern zusätzlich enorme Zins- und Tilgungslasten die Konsumkraft strangulieren.

Der Markt für Kreditverbriefungen hat wesentlich dazu beigetragen, dieses Ende hinauszuschieben. Inzwischen scheint es trotz allem erreicht zu sein. Die Ratingagentur Fitch registriert, daß US-Verbraucher zur Zeit mehr Kartenkredit in Anspruch nehmen, obwohl sie bereits weniger ausgeben. Der einfache Grund ist: Sie finanzieren ihre Kredite mit neuen Krediten, etwa um bei der Rückzahlung der Hypotheken nicht in Rückstand zu kommen. Durchschnittsverdiener hätten einfach nicht mehr genug Geld, um Hypotheken zu bedienen sowie all die steigenden Kosten für Gesundheitsvorsorge, Benzin, Kindergärten und Nahrungsmittel, sagte die Harvard-Professorin Elizabeth Warren der Chicago Tribune. Das Abgleiten der US-Wirtschaft in eine harsche Rezession scheint so mehr als nur wahrscheinlich. Bereits im August ist die offizielle Zahl der Beschäftigten zum ersten Mal seit Jahren wieder gesunken. Eine Rezession in den USA wiederum ginge auch an keinem anderen Teil der Welt ohne Spuren vorbei.

Firmen ohne Eigenkapital

Die dunklen Wolken, die sich im Zusammenhang mit den schuldengebeutelten US-Konsumenten zusammenschieben, sind allerdings nicht die einzigen Vorboten eines drohenden Gewitters. Der in den letzten Jahren aufgeblasene globale Kreditballon hat noch eine weitere Dimension. Bekanntlich hat die Hypothekenkrise auch den Private-Equity-Geiern gründlich das Geschäft vermasselt, obgleich diese mit US-Baudarlehen eigentlich nichts zu schaffen hatten. Der Grund liegt darin, daß es zwischen den immer lässigeren Standards bei der Hypothekenvergabe in den USA und den Krediten, die die Private-Equity-Gesellschaften den übernommenen Unternehmen aufgebürdet haben, eine unmittelbare Parallele gibt: So, wie Familien mit Zins- und Tilgungszahlungen belastet wurden, die erwartbar ihr laufendes Einkommen übersteigen, standen die durch den Aufkauf produzierten Schulden immer weniger im Verhältnis zu den Einnahmen des betreffenden Unternehmens.

Sind europäische Firmen im Schnitt mit etwa dem Dreieinhalbfachen des operativen Ergebnisses (Ebitda) verschuldet, liegt dieser Wert bei Unternehmen, die von Heuschrecken aufgekauft wurden, beim Sechsfachen. In nicht wenigen Fällen haben sie sechs bis zwölf Monate nach dem Buyout faktisch kein Eigenkapital mehr. Daß die Banken die benötigten Kreditsummen dennoch bereitwillig und zinsgünstig zur Verfügung stellten, lag ausschließlich daran, daß auch diese Forderungen unmittelbar nach Abschluß der Transaktion in Päckchen zusammengeschnürt, verbrieft und auf den Markt geworfen wurden. Wie bei den mit Hypotheken besicherten CDO's (Collateralised Debt Obligations – außerbörslich gehandelte Hypothekenbündel, siehe Teil I, d. Red.) zogen die Banken ihren Gewinn auch hier aus Gebühren und Provisionen, die mit wachsendem Kreditvolumen immer weiter nach oben getrieben werden konnten.

»Man interessiert sich nicht mehr dafür, ob der Kreditnehmer den Kredit zurückzahlen kann, sondern nur noch dafür, die Kreditströme zu maximieren«, stellte die Financial Times Deutschland im Mai fest, als das Treiben noch im vollen Gange war (FTD, 23.5.07). Cov-Light nennt sich das Subprime-Äquivalent bei Unternehmensanleihen. Auch das sind Schulden, von denen kein vernünftiger Mensch erwartet, daß sie jemals vollständig zurückgezahlt werden können. Aber so lange jeder Käufer der Papiere fest davon ausging, immer noch einen Dümmeren zu finden, der ihm den Schrott mit genau der gleichen Erwartung zu einem höheren Preis wieder abnimmt, brummte das Geschäft.

»Es wird eine Welle von Kreditausfällen geben«, sagte der Geschäftsführer der auf Sanierung spezialisierten amerikanischen Beratungsgesellschaft Alix Partners der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bereits im Oktober 2006. Allein für die folgenden zwei Jahre prognostiziert er faule Kredite aus dem Private-Equity-Unwesen im Wert von 25 bis 30 Milliarden Euro. Ein Viertel davon übrigens in Deutschland, wo die Finanzinvestoren besonders aktiv waren. In ihrem Monatsbericht vom August beschreibt die Europäische Zentralbank das drohende Krisenpotential vornehm mit folgenden Worten: »Der weltweite Markt für Leveraged Loans (also Schulden aus Unternehmensaufkäufen – S.W.), zu dem auch ein großes europäisches Segment gehört, weist einige Ähnlichkeiten mit dem Subprime-Hypothekenmarkt in den USA auf, die Bedenken hinsichtlich der Finanzstabilität im Falle einer negativen Wendung des Kreditzyklus hervorrufen könnten. Der hohe Fremdkapitalanteil bei den jüngsten Übernahmen läßt sich mit der hohen Beleihungsgrenze bei Subprime-Hypotheken vergleichen. Darüber hinaus ist die Praxis der Dividendenrekapitalisierung, bei der die LBO-Partner (die Aufkäufer – S.W.) (...) von der steigenden Marktbewertung der Zielunternehmen profitieren, mit der Hypothekenrefinanzierung vergleichbar, die ein wichtiger Stützfaktor für den Subprime-Markt in den Jahren anziehender US-Wohnimmobilienpreise war.«

Man könnte es auch weniger elegant ausdrücken: Auf beiden Märkten ist mit heißer Luft gehandelt worden, und die mußte in dem Augenblick entweichen, in dem die Blase auf dem Markt für die jeweils als Sicherheit genutzten Vermögenswerte (Häuser oder Unternehmen) zu platzen begann. Übrig bleiben am Ende ruinierte Eigenheimbesitzer, in den Konkurs gezwungene Unternehmen, entlassene Beschäftigte und ein Berg fauler Kredite.

Als die mit amerikanischen Subprime-Hypotheken abgesicherten CDO's zu wackeln begannen, fanden die Banken folgerichtig auch immer weniger Investoren, die bereit waren, verbriefte Kreditpakete überschuldeter Unternehmen mit ungewisser Zukunft in ihr Portfolio zu nehmen. Oder wenn, dann gegen saftige Preisabschläge. So blieben die Banken aus der Rekordübernahmewelle der ersten Hälfte dieses Jahres auf schätzungsweise 300 Milliarden Dollar an Akquisitionskrediten sitzen, die sie vorerst in ihren Büchern behalten müssen.

Aber unvorstellbare Mengen dieser und ähnlicher Kreditderivate sind längst im Markt und machen denen, die sie in ihren Büchern haben, nun verdientermaßen das Leben schwer. Allein im Jahr 2006 wurden in den USA Instrumente von der Art der CDO's im Wert von 4,6 Billionen Dollar auf den Markt gebracht und an Investoren in aller Welt verkauft. Niemand weiß genau, in welchen Conduits (Finanzierungsgesellschaften) oder Hedge-Fonds sich wie viele davon verstecken. Da zumindest die Hedge-Fonds auch nicht zur Offenlegung und transparenten Bilanzierung verpflichtet sind, wird man es wohl auch nur da erfahren, wo der Pleitegeier signalisiert, daß ein Investor sich gänzlich überhoben hat.

Folgen für die Weltwirtschaft

Große Hedge-Fonds und Banken mögen in der Lage sein, die Wertverluste Schritt für Schritt abzuschreiben, so wie die japanischen Banken es mit dem Berg fauler Kredite getan haben, auf dem sie nach dem Platzen der dortigen Immobilienblase saßen. Aber erstens war auch das nur möglich, weil der japanische Staat zur Unterstützung tief in die Steuerkasse gegriffen hat. Zweitens hat dieser Prozeß die japanische Wirtschaft ja tatsächlich in eine jahrelange Depression gezwungen. Und drittens freilich gibt es im jetzigen Fall ein zusätzliches Krisenpotential, das darin liegt, daß die derzeit unverkäuflichen Schuldverschreibungen in der Regel mit kurzfristigen Krediten, sogenannten Commercial Papers, finanziert wurden. Diese Kredite haben Laufzeiten zwischen einem und neun Monaten und müssen daher in relativ kurzen Abständen immer wieder neu unter die Leute gebracht werden.

Für möglicherweise konkursreife Halter du­bioser Schuldverschreibungen aber mag niemand gern Kredit bereitstellen. So hat die grassierende Fäulnis unter den langfristigen Schuldverschreibungen mittlerweile auch den Markt für Commercial Papers ins Trudeln gebracht. Diese Papiere wiederum dienen nicht nur der Finanzierung der genannten Kreditderivate, sondern werden auch von Unternehmen genutzt, die kurzfristig Liquidität benötigen. Die realwirtschaftlichen Auswirkungen, wenn dieser Markt stockt, liegen auf der Hand.

Hinzu kommt, daß für viele Finanzierungsgesellschaften, die sich in der Klemme befinden, die Banken mit milliardenschweren Liquiditätszusagen in der Pflicht stehen. Das heißt, wenn sonst niemand für die Refinanzierung sorgt, muß es die betreffende Bank tun. Es war genau dieser Mechanismus, der die IKB und die Sachsen LB beinahe in den Konkurs getrieben hat. Hedge-Fonds haben eine solche Rückversicherung meistens nicht. Brauchen sie Liquidität, müssen sie Aktien verkaufen oder andere Papiere auf den Markt werfen. Tatsächlich waren ihre Verkäufe ein wichtiger Auslöser des jüngsten Abwärts­trends an den Weltbörsen. Zu den Verwicklungen des heutigen Weltfinanzsystems gehört allerdings, daß solche in der Logik des Aktienmarktes scheinbar unmotivierten Verkäufe wiederum die mathematischen Modelle entwerten, auf denen die Anlagestrategie vieler Hedge-Fonds beruht. Dies hat einige dieser Spekulationsvehikel zusätzlich aus dem Tritt gebracht.

Auch wenn hier scheinbar nur mit Luft gehandelt wird, haben die Transaktionen der Hedge-Fonds beträchtliche Auswirkungen auf Wechselkurse, auf die Finanzierungsbedingungen von Unternehmen und damit letztlich auf Investitionen, Arbeitsplätze und Lebenschancen. Immerhin verwalten die gegenwärtig etwa 10000 Hedge-Fonds heute zusammen ein Vermögen von rund 1,9 Billionen Dollar. Dank der Hebelwirkung hoher Kredite bewegen sie ein Vielfaches dessen. Die Summen, deren plötzlicher Rückfluß 1997 die Südostasienkrise ausgelöst hatte, waren ungleich geringer und haben dennoch ausgereicht, eine riesige Region in ihrer Entwicklung um Jahre zurückzuwerfen und Millionen Lebensperspektiven zu vernichten.

Ob sich aus der Gemengelage heute ein weltweiter Finanzcrash mit schlimmen Folgen für die Weltwirtschaft entwickeln wird, oder ob es gelingt, wie im Falle des taumelnden Mega-Hedge-Fonds LCTM 1998 und der geplatzten Technologieblase 2000 die Situation durch Zinssenkungen und unter Einsatz öffentlicher Gelder vorläufig wieder in den Griff zu bekommen, ist offen. Sicher ist nur, daß der Spielraum mit jeder neuen Blase, zu der solche Maßnahmen unweigerlich führen, immer kleiner wird.

Die globale Deregulierungswelle hat dazu geführt, daß der Kapitalismus sich heute wieder in jener vollen Schönheit zeigt, mit der er sich in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts der Menschheit ins Gedächtnis geschrieben hat. Die Folgen sind bekannt. Es gibt Vergangenheiten, die man wirklich nicht wiederhaben möchte.

Redaktion

Impressum

Sahra Wagenknecht

MdEP, Koordinatorin für die Fraktion GUE/NGL im Ausschuss für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments

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